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Pazifismus ade: Japan rüstet auf
Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki verlieren zusehends ihren Schrecken
Im Kopf von Terumi Tanaka gibt es Bilder, die kann er einfach nicht vergessen. »Ich war im ersten Stock meines Elternhauses, als ich plötzlich einen Riesenblitz sah«, sagt der 93-Jährige mit großen Augen. »Ich rannte nach unten, und sobald ich ankam, verlor ich mein Bewusstsein.« Was war geschehen? Nicht nur, weil er damals ein Teenager war, hatte Terumi Tanaka keine Ahnung, was vor sich ging. Das, was andere Augenzeugen als »zweite Sonne am Himmel« beschrieben, verstand an jenem Tag noch kaum jemand.
Irgendwann wachte der 13-jährige Terumi zwischen zersprungenen Scheiben und zertrümmerten Türen wieder auf, machte sich auf den Weg in Nagasakis Innenstadt. »Ich wollte meine Freunde und Verwandten finden.« Aber der Anblick, erinnert er sich heute, war sprichwörtlich die Hölle: »Zerstörung, Verwüstung, tote Körper überall. Stundenlang ging ich durch die ruinöse Landschaft.« Er selbst war zum Glück weitgehend unverletzt, aber durch die unglaubliche Explosion hatte er fünf Familienmitglieder verloren.
Am 9. August 1945 war in Terumi Tanakas Heimatstadt Nagasaki eine Atombombe detoniert. In einer Zeit lange vor dem Internet war vielen in der südwestjapanischen Stadt nicht bekannt, dass drei Tage zuvor, am 6. August, in der weiter östlich gelegenen Stadt Hiroshima Ähnliches geschehen war. Temperaturen von mehr als 2000 Grad Celsius waren durch die Explosion entstanden, heiß genug, um Stahl zum Schmelzen zu bringen. Große Teile der Stadt, wie nun auch in Nagasaki, waren praktisch verschwunden.
Kurze Zeit später rief Japans Kaiser Hirohito die Kapitulation des ostasiatischen Landes aus, das zuvor an Deutschlands Seite einen faschistischen Expansionskrieg geführt hatte. Der Zweite Weltkrieg war damit beendet. Ein gutes Jahr später erhielt Japan, wo zunächst die siegreichen USA Besatzungsmacht wurden, eine neue Verfassung, die weltweit Pioniercharakter haben sollte: In Artikel 9 verbietet Japan sich selbst die Kriegsführung und sogar ein Militär. Aus dem kriegerischen Japan wurde ein pazifistisches Land.
Und heute, 80 Jahre später? Terumi Tanaka ist weltberühmt. Aus einem dünnen Jungen ist ein Herr mit grauem Kranz um den Kopf und großer Brille geworden, der seine Wochen mit Vortragsreisen verbringt und Interviews gibt. Als Vorsitzender der aus Überlebenden der Atombombenabwürfe bestehenden Organisation Nihon Hidankyo gewann Tanaka 2024 den Friedensnobelpreis – für den Einsatz seiner Organisation gegen Atomwaffen. Eine Erfolgsgeschichte allemal.
Aber fragt man diesen Herren, der seit Jahrzehnten in Museen und Schulen über die Auswirkungen von Atombomben doziert, fühlt er sich eher wie ein Verlierer. Bei der Frage nach Prominenz schüttelt er den Kopf. »Als wir den Friedensnobelpreis gewonnen hatten, rief mich sofort Premierminister Shigeru Ishiba an, um zu gratulieren.« Bei einem Treffen kurz darauf sei aber kaum ein Dialog entstanden. »Herr Ishiba sprach nur davon, warum er Aufrüstung wichtig findet. Uns ließ er gar nicht zu Wort kommen.« Die Botschaft, die der Nobelpreisträger immer wieder verbreitet, wollen Japans Konservative um Ishiba nicht hören: »Jede Bombe, die existiert, ist ein Sicherheitsrisiko, weil sie letztlich auch benutzt werden kann. Die Geschichte hat das doch bewiesen!« Diese Erfahrungen prägen Tanakas Blick auf die heutige Weltlage, in der erneut die Gefahr eines Atomkriegs real erscheint.
Seit Russlands neuerlichem Angriff auf die Ukraine ab Februar 2022 hat der russische Präsident Wladimir Putin wiederholt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Putins Verbündeter Kim Jong-un, der Diktator von Nordkorea, tut dies auch gelegentlich. Und seit einigen Tagen scheint in Gestalt von Donald Trump auch der Präsident der USA mit der Option zu liebäugeln, Atomwaffen gegen Russland einzusetzen. Drei autoritäre Regierungschefs, die sich offenbar ungern reinreden lassen, spielen mit dem Feuer.
Japan ist über die letzten Jahrzehnte insofern ein Ruhepol der internationalen Politik gewesen. Denn innenpolitisch hatte die Absage an Militarismus Bestand: Auch wegen der unermüdlichen Arbeit von Menschen wie Terumi Tanaka zeigen Umfragen, dass »heiwa«, das japanische Wort für Frieden, zu den für die Gesellschaft wichtigsten Begriffen überhaupt gehört. Wiederholte Versuche der Konservativen, Artikel 9 aus der Verfassung zu streichen, sind gescheitert. Die Japaner wollen pazifistisch sein.
Nur, wie pazifistisch genau? Am anderen Ende der Leitung atmet Terumi Tanaka tief durch. »Wir leben in einer Zeit, in der Aufrüstung vielen Menschen wieder attraktiv erscheint.« Der Pazifist, der die Atombombe von Nagasaki überlebt hat, bedauert das. Schon 2015 beschloss der damalige nationalistische Premier Shinzo Abe gegen große Proteste, dass die Selbstverteidigungskräfte – Japans De facto-Militär – fortan bei Auslandseinsätzen Waffen benutzen dürften, um Verbündete und damit auch Japan selbst zu schützen.
Nach einem jahrzehntelangen Verbot erlaubte Abe es der heimischen Rüstungsindustrie zudem, ihre Güter zu exportieren. Auf Russlands Invasion in die Ukraine hin beschloss Abes Nachfolger und Parteikollege Fumio Kishida dann eine Verdopplung des Wehretats auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Kishida verwies auf eine scheinbare Notwendigkeit: In der Nachbarschaft eines zündelnden Nordkoreas, eines aggressiven Russlands und eines Chinas, das längst nicht nur mit der Einnahme Taiwans droht, müsse auch Japan aufrüsten.
Bei solchen Schilderungen nickt John Bradford. Der US-Amerikaner war ab den 1990er Jahren wiederholt für das US-Militär – das nach 1945 Japans wichtigster Verteidigungspartner wurde – in Japan stationiert. Heute ist Bradford Leiter des Sicherheits-Thinktanks Ycaps. In einem Café im westlichen Tokioter Viertel Meguro kritzelt der wuchtige Mann eine Karte von Ost- und Südostasien mit lauter Pfeilen auf einen Kassenbon. Die Botschaft: Raketen aus China und Nordkorea könnten Tokio binnen Minuten treffen.
John Bradford, der auch in Kontakt mit Vertretern der US-amerikanischen und japanischen Regierung steht, gehört zu jenen Beobachtern, die eine militärische Stärkung Japans für unausweichlich halten. »Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Japans Selbstverteidigungskräfte noch nicht sonderlich fähig. Da war es eher so, dass Japan den Boden zur Verfügung stellte und die USA das Militär.« Aber das, so Bradford, sei längst anders. »Japan hat heute eines der fähigsten Militärs überhaupt.«
Ein Blick auf die Einkaufsliste und Bauvorhaben der Selbstverteidigungskräfte – von den Marschflugkörpern Tomahawk zu einem gemeinsam mit Großbritannien und Italien entwickelten Kampfjet – lässt erwarten, dass sie in den nächsten Jahren noch deutlich kräftiger werden. Wobei gerade die USA, der Partner auf der anderen Seite des Pazifiks, der ironischerweise nach 1945 stets Schutz vor atomaren Angriffen bot, Japans Aufrüstung nun weiter befeuern könnten. Denn an der Treue von Donald Trump bestehen auch in Tokio Zweifel.
In einem Hörsaal der Tokioter Sophia Universität, in fußläufiger Nähe zum Kaiserpalast, spricht Sayo Saruta das aus, was in Japan alle denken: »Es weiß ja niemand, was Trump will!« Werde er nach der EU auch Japan den Rücken kehren? Dann müsse Tokio entscheiden, ob es enger mit Südkorea kooperieren will, mit dem es wegen der einstigen Kolonialherrschaft aber ein kompliziertes Verhältnis gibt. Und fühlte man sich ohne die USA noch der Verteidigung Taiwans gegen China verpflichtet? Die Frage mag derzeit kaum jemand beantworten. Also wird weiter aufgerüstet.
Die Politikberaterin Sayo Saruta beobachtet, wie zerrissen Japans Gesellschaft und Politik derzeit ist, zwischen Pazifisten und Befürwortern einer Militarisierung. Vor einigen Jahren hat sie den Thinktank New Diplomacy Initiative gegründet, um die zwei Lager zu versöhnen. Sie hält regelmäßig Vorträge, an Universitäten wie auch in Parlamentskommissionen. »Wir müssen weniger über Krieg und mehr über Frieden sprechen«, sagt sie mit so viel Druck in der Stimme, dass sie ihr Mikrofon gar nicht bräuchte.
Während eine japanische Aufrüstung die starke militärische Abhängigkeit von den USA verringern könnte, dürfe es mit einer Stärkung des Militärs aber keine alten Ängste vor einer Expansion wecken. »In den 1930er Jahren eroberte Japan große Teile des Pazifiks und rechtfertigte dies damit, Asien vor den Europäern zu schützen«, erklärt Saruta vor einer Gruppe internationaler Journalisten. »Heute gelten wir als pazifistische Nation. Aber das hat lange gedauert und viel Diplomatie gebraucht.«
Doch ist es überhaupt möglich, einerseits aufzurüsten und andererseits um eine Verständigung bemüht zu sein? Gerade in Ostasien – wo der Zweite Weltkrieg bis heute zwischen Japan, Südkorea und China nachwirkt, weil Konflikte um Zwangsarbeiter, Sexsklavinnen und Opferzahlen nie abschließend geklärt worden sind – ist das ein Balanceakt. »Der Austausch mit Südkorea und auch China wird entscheidend«, sagt Sayo Saruta. Südkorea sei ein möglicher engerer Partner, China zumindest ein Nachbar, der nicht gleich zum ärgsten Feind werden müsse.
In den vergangenen Jahrzehnten stellte sich die japanische Zivilgesellschaft einer allzu deutlichen Aufrüstung des Landes mit großen Demonstrationen immer wieder in den Weg. Wer sich allerdings heute im Tokioter Regierungsviertel umsieht, findet nur noch eine Handvoll Demonstranten. Die Mehrheit des Landes hat sich angesichts des aufstrebenden Chinas mit einer Militarisierung abgefunden – auch wenn sie den Pazifismusartikel 9 in der Verfassung weiter schützen will.
So liegt es nun an den Politikern, die Nachbarschaft mit einer raschen Aufrüstung nicht zu sehr zu verschrecken. Ein Schritt wäre, sagt Sayo Saruta nach ihrem Vortrag, wenn die Konservativen nicht weiter umstrittene Pilgerstätten wie den Yasukuni-Schrein besuchten, der unter allen für Japan Gefallenen auch Kriegsverbrecher ehrt. Jedes Jahr um den 15. August, als Kaiser Hirohito im Jahr 1945 durchs Radio die Kapitulation verkündete, versammeln sich Nationalisten auf dem Schreingelände im Zentrum Tokios.
Jedes Jahr, wenn dies geschieht, folgen aus Südkorea und China Reaktionen voller Empörung. Solche Provokationen zu unterlassen wäre ein Zeichen der Friedlichkeit, glaubt auch Terumi Tanaka, der Friedensnobelpreisträger. Aber damit Japan für echten Frieden stehe, als Vorbild für eine Welt ohne Krieg, sei mehr nötig. Zu Ende des Videocalls sagt der Friedensnobelpreisträger: »Optimistisch bin ich leider nicht, dass sich Japans als Staat mal entschieden gegen Atomwaffen einsetzen wird.«
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