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Das bisschen Trauer
In »Was uns verbindet« stirbt eine Frau bei der Geburt, aber hoppla, wird Ersatz gefunden
Man kann es nicht mehr sehen: Überzeugter Single (in der Regel männlich) trifft auf niedliches Kind, muss sich wider Willen allein mit ihm rumschlagen, und aus der Abneigung wird große Liebe, die nicht selten mit einer Bekehrung zum Kleinfamiliendasein einhergeht. Dieses überstrapazierte Kindchenschema aus zahlreichen Feel-Good-Movies setzt nun auch Carine Tardieu ein, wandelt es aber dankenswerterweise an entscheidender Stelle ab. Ihre ungebundene und selbstbewusste Protagonistin Sandra, die mit Leidenschaft einen feministischen Buchladen führt, erklärt sich widerstrebend bereit, ein paar Stunden auf den sechsjährigen Nachbarsjungen Elliot (César Botti als Bilderbuchnaseweis) aufzupassen, während die Eltern zur Entbindung seiner Schwester ins Krankenhaus fahren, doch dann kehrt der Vater ohne Frau und Mutter zurück – nur das Baby hat die Geburt überlebt.
Huch! Will der Film eine gestandene Feministin, Mitte 50, in die Rolle der Familienmutter zwingen?
Sandra sieht die Nöte der trauernden Restfamilie, wird vom berückend altklugen Elliot auserwählt und in Beschlag genommen, greift dem Witwer zunächst zögerlich, dann immer bestimmter unter die Arme, was dieser mit Avancen erwidert – und spätestens da schrillen beim Zuschauen alle Alarmglocken: Soll hier eine gestandene Feministin, Mitte 50, für ihr unabhängiges Leben abgestraft und in die Familienmutterrolle gezwungen werden?
Obwohl ihr Film nicht frei von Klischees ist – so einfach macht es sich die Regisseurin französischer Publikumslieblinge (»Eine bretonische Liebe«) nicht. Sandra darf ihre Unabhängigkeit bewahren und dennoch eine für sie selbst überraschende, ganz anders geartete Verbindung eingehen.
Die Pariser Regisseurin versteht sich, wie sie sagt, »zwangsläufig« als Feministin, aber nicht als Aktivistin. »Die Politik kommt ein bisschen in meinen Filmen vor, aber es ist nicht mein Hauptanliegen, Botschaften zu vermitteln, dennoch ist das Schreiben eine Form des Engagements.« Sie habe sich viel zu oft dafür rechtfertigen müssen, nicht das traditionelle Rollenmodell zu leben. Als sie sich mit 40 Jahren entschloss, ein Kind zu adoptieren, hat sie selbst erfahren, wie Bindung (»L’Attachement« heißt der Film im Original) aus intensivem Kontakt entsteht. Bei dieser Verfilmung von Alice Ferneys Roman »L’intimité« hatte sie die Theorie des britischen Psychoanalytikers John Bowlby im Hinterkopf, nach der sich Kinder in ihrem Überlebensinstinkt an denjenigen binden, der sich um sie kümmert. »Kurz gesagt: Not macht erfinderisch.« Eben weil Sandra nicht die Ersatzmama spielt und mit Elliot wie mit einem Erwachsenen redet, sieht er in ihr keine Konkurrenz zu seiner Mutter und wählt sie als sicheren Hafen in einer Phase, in der es ihm und seinem Vater den Boden unter den Füßen wegzieht.
Sandras Schwester und Mutter fungieren in »Was uns verbindet« als Gegenmodelle und repräsentieren unterschiedliche weibliche Lebensweisen. Dennoch banalisiert und romantisiert der Film sowohl Care-Arbeit als auch Trauer. Die alltäglichen Krisen wirken wie abgefedert und die Kinder des alleinerziehenden Witwers entwickeln sich ganz nebenbei prächtig. Der Film ist unterteilt in linear fortschreitende Kapitel, die mit dem jeweiligen Alter des Neugeborenen überschrieben sind, und bleibt auch sonst geradlinig und konventionell. Nur am Anfang nimmt die Kamera die Kinderperspektive ein. Wichtige Botschaften übermitteln sich die Erwachsenen durch geschlossene Glastüren hindurch, eine Restdistanz bleibt gewahrt.
Auffällig ist, dass Valeria Bruni Tedeschi, sonst auf Nervenbündel und »Hysterikerinnen« abonniert, ausgerechnet in der Rolle der unkonventionellen Feministin brav, beherrscht und zurückgenommen agiert. So viel stumm lächeln hat man sie nie zuvor gesehen. Das Verwegenste, was ihr das Drehbuch erlaubt, ist die Angewohnheit zu rauchen – und zwar selbst, wenn kleine Kinder im Raum sind.
Was uns verbindet, Frankreich 2024. Regie: Carine Tardieu. Mit Valeria Bruni Tedeschi, Pio Marmaï. 105 Minuten. Kinostart: 7.8.
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