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Microsoft-Technik für Risikoprognosen zu Palästinensern
Azure-Cloud speichert Millionen Telefongespräche und ermöglicht rückwirkende Analysen
Dass US-Tech-Konzerne ihre Produkte auch für die Überwachung von Palästinenser*innen zur Verfügung stellen, ist bekannt: Israel betreibt eine Bevölkerungsdatenbank von IBM, das dortige Militär nutzt Cloud-Systeme von Google und Amazon für KI-Systeme. Microsoft betreibt in Israel sein größtes Rechenzentrum außerhalb der USA, auf die Azure-Cloud des Unternehmens bauen Militär, Polizei und Gefängnisbehörden in Israel. Nun deckt ein Bericht des »Guardian« auf, wie sich der Konzern aus Redmond mit einer weiteren Anwendung militärischen Kund*innen zuwendet.
Die Recherche stammt von dem Berlinale-preisgekrönten Regisseur Yuval Abraham und entstand gemeinsam mit dem israelisch-palästinensischen Magazin +972 und Local Call. Sie enthüllt ein bisher unbekanntes Überwachungssystem der israelischen »Unit 8200«: Seit 2022 nutzt diese Militäraufklärungseinheit Microsofts Azure-Cloud-Plattform, um täglich Millionen von Telefongesprächen von Palästinenser*innen im Gazastreifen und Westjordanland zu speichern und zu analysieren.
Das Überwachungssystem ging laut der Recherche erstmals 2022 in Betrieb. Mehrere Geheimdienstquellen berichteten von einem internen Slogan, der die Dimension des Projekts verdeutlicht: »Eine Million Anrufe pro Stunde«. In diesen Daten kann rückwirkend gesucht werden, wenn die Personen zu einem späteren Zeitpunkt in den Fokus geraten. Diese Massenüberwachung ist für das Militär praktisch: Früher mussten derartige Ziele vorausgewählt werden, damit ihre Gespräche abgefangen und gespeichert werden konnten.
Zusätzlich entwickelte die Einheit 8200 ein System namens »Störende Nachrichten« (»Noisy Message«), das alle Textnachrichten zwischen Palästinenser*innen im Westjordanland scannt, speichert und ihr eine Risikobewertung zuweist – basierend auf einer automatisierten Analyse verdächtiger Wörter. Das System soll etwa Nachrichten identifizieren, in denen über Waffen gesprochen oder der Wunsch zu sterben geäußert wird.
Wie bei seiner bahnbrechenden Recherche zu dem System »Lavender« stützt sich Yaval auch in Bezug auf die Nutzung von Microsofts Azure auf Aussagen von Militärangehörigen. Drei Quellen aus der Aufklärungseinheit bestätigten dem »Guardian«, dass die cloudbasierte Speicherplattform für Operationen in Gaza und dem Westjordanland eingesetzt wird – auch zur Vorbereitung tödlicher Luftangriffe. Bei der Planung von Angriffen in dicht besiedelten Gebieten würden Offizier*innen das System nutzen, um Gespräche von Personen in unmittelbarer Umgebung zu analysieren.
Die Nutzung des Systems habe während des Gaza-Kriegs, der bisher mehr als 60 000 Menschen das Leben kostete, zugenommen. Ursprünglich war es jedoch für das Westjordanland konzipiert worden, wo rund drei Millionen Palästinenser*innen unter israelischer Besatzung leben. Dazu hatte Abraham kürzlich beschrieben, wie Israels Militär mit den Millionen abgehörter Telefongespräche und Nachrichten von Bewohner*innen in den besetzten Gebieten ein KI-Sprachmodell trainiert.
Einige 8200-Quellen sollen sogar behauptet haben, die mithilfe des US-Konzerns erhobenen Daten seien zur Erpressung, Inhaftierung oder nachträglichen Rechtfertigung von Tötungen verwendet worden. »Wenn sie jemanden verhaften müssen und keinen ausreichenden Grund dafür haben, finden sie dort die Ausrede«, soll einer von Yavals Informant*innen gesagt haben.
Interne Microsoft-Dokumente zeigten laut »Guardian«, dass bis Juli dieses Jahres 11 500 Terabyte israelischer Militärdaten – entsprechend etwa 200 Millionen Stunden Audio – auf Microsoft-Azure-Servern in den Niederlanden gespeichert waren, ein weiterer – kleinerer – Teil in Irland. Die Militäreinheit 8200 habe Microsoft mitgeteilt, langfristig bis zu 70 Prozent ihrer Daten, einschließlich geheimer und streng geheimer Informationen, in Azure verschieben zu wollen.
Unterstützung für das Cloud-Projekt für Israels Militär kam offenbar höchstpersönlich von Microsoft-Chef Satya Nadella – das gehe aus den internen Microsoft-Dokumenten und Interviews mit elf Quellen hervor, schreibt Abraham. Ende 2021 soll sich Nadella mit dem damaligen Kommandeur der »Unit 8200«, Yossi Sariel, im Hauptquartier des Unternehmens nahe Seattle getroffen haben. Sariel warb demnach für ein Projekt, das der Einheit die Nutzung eines abgeschotteten und angepassten Bereichs in Microsofts Azure-Cloud ermöglichen sollte. Hintergrund sei eine Welle von Anschlägen junger Palästinenser*innen im Jahr 2015 gewesen. Zu dieser Zeit hatte Sariel eine erhebliche Ausweitung der abgefangenen palästinensischen Kommunikation gefordert.
Microsoft betrachtete die mehrjährige Partnerschaft mit Israels Militär offenbar als lukrative Geschäftsmöglichkeit. Führungskräfte erwarteten laut »Guardian« Hunderte Millionen Dollar Umsatz und »einen unglaublich kraftvollen Markenmoment« für Azure.
Auch Nachfrage wies Microsoft die Vorwürfe jedoch umfassend zurück. Das Unternehmen sei über die Verwendung der von der Einheit 8200 gespeicherten Daten nicht informiert gewesen. Die Zusammenarbeit habe demnach ausschließlich der Cybersicherheit und dem Schutz vor Terrorangriffen gedient. Auch Nadellas persönliche Unterstützung für das Projekt wird bestritten.
Nach früheren Enthüllungen über die Verwendung von Microsoft-Produkten im Gaza-Krieg habe das Unternehmen eine externe Überprüfung in Auftrag gegeben. Diese habe keine Belege dafür gefunden, dass Microsofts Azure- und KI-Technologien »dazu verwendet wurden, Menschen im Gaza-Konflikt ins Visier zu nehmen oder ihnen zu schaden«. Microsoft erklärt, mit dem israelischen Militär vereinbart zu haben, dass die Systeme nicht zur Zielauswahl für tödliche Angriffe eingesetzt werden dürfen.
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