Wien vor Hitze-Epoche: »Wir haben nur noch ein paar Jahre«

Wiens Stadtrat Jürgen Czernohorszky über die Bedeutung von direkter Demokratie und Klimaschutz für den Erhalt der Ordnung

Durch die dichte Bebauung kämpft Wien mit dem Hitzeinseleffekt. Die Stadt im Sinne aller Bürger*innen baulich an den Klimawandel anzupassen, gilt als entscheidende Herausforderung für die Demokratie – und als eine ihrer letzten Chancen.
Durch die dichte Bebauung kämpft Wien mit dem Hitzeinseleffekt. Die Stadt im Sinne aller Bürger*innen baulich an den Klimawandel anzupassen, gilt als entscheidende Herausforderung für die Demokratie – und als eine ihrer letzten Chancen.

Herr Czernohorszky, Wien ist für Sie die Stadt der Mitbestimmung. Woran machen Sie das fest?

Wien versteht sich als Stadt, die allen ein gutes Leben ermöglichen will, nicht nur denen, die das entsprechende finanzielle Auskommen haben oder in einem bestimmten Bezirk wohnen. Wien unterscheidet von anderen Städten auch die Tatsache, dass der soziale Wohnbau seit über 100 Jahren dazu geführt hat, dass Wien eine Stadt ist, in der man sich’s leisten kann zu leben. Die Klimakrise verlangt uns ab, vieles anders zu machen, wenn wir die Lebensqualität auch für die nächsten 20, 30, 50 Jahre absichern möchten. Die notwendige Transformation können wir nur mit den Bürger*innen gemeinsam organisieren. Dafür müssen wir die selbstkritische Frage stellen: »Gelingt es uns, alle zu beteiligen, oder sind wir mit unseren Beteiligungsangeboten erst recht wieder ein Beitrag zu einer Zweidrittel-Demokratie, wo manche mitmachen und manche eben nicht?«

In dem Versuch, der Herausforderung der demokratischen Beteiligung Rechnung zu tragen, setzt Wien auf die Struktur des Klimateams. Welche Bedeutung kommt dem Klimateam zu und wie funktioniert es?

In Beteiligungsprozessen ist es sehr oft so, dass der Frust spätestens dann beginnt, wenn es in die Umsetzung geht. Die dauert lange und ist häufig anders, als sich vielleicht die einen oder anderen vorgestellt haben. Wien hat sich zwar als eine deliberative Demokratie sehr weiterentwickelt. Gleichzeitig mussten wir aber erkennen, dass in den Beteiligungsformaten erst recht wieder nur jene mitbestimmen, die auf der privilegierteren Seite der Gesellschaft stehen. Beides wollen wir mit den Klimateams anders machen. Klimateams finden jährlich in drei Wiener Bezirken statt, und zwar jeweils im ganzen Bezirk, in Communitys, Vereinen, Schulen, Kindergärten, Kirchen, Moscheen, in Parks. Zunächst werden Ideen in den Bereichen Klimaschutz, Klimaanpassung und Kreislaufwirtschaft artikuliert und Mitstreiter*innen gefunden. In der zweiten Phase werden aus den Ideen wiederum in einem ko-kreativen Prozess mit den Bürger*innen und den Expert*innen der Stadt konkrete Projekte erarbeitet – mit politischen Zuständigkeiten, Verwaltungszuständigkeiten, einem Budget. Eine repräsentative Bürger*innen-Jury entscheidet dann, welche Projekte mit dem Budget realisiert werden sollen. Das Budget ist 20 Euro pro Bezirksbürger*in. Die Jury wird nach soziodemografischen Kriterien gelost und ist sozusagen ein Mini-Bezirk. Am Schluss wird von der Politik dann keine Entscheidung mehr getroffen, die ist schon mit dem Startschuss des Klimateam-Prozesses gefallen. Und dann erfolgt schon die konkrete Umsetzung innerhalb von zwei Jahren.

Interview
Foto: Pertramer

Jürgen Czernohorszky (SPÖ) ist seit 2020 Stadtrat für Klima, Umwelt, Demokratie und Personal in der Wiener Stadtregierung.

Was ist Ihr Lieblingsprojekt aus den letzten drei Jahren?

Ein Projekt ist die Organisation eines Pedi- und Bicibusses – die organisierte Begleitung von Kindern zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf dem Schulweg. Das andere ist die völlige Umgestaltung von einem Grätzl (Kiez, Anm. d. Red.) durch eine Reduktion des motorisierten Autoverkehrs und mehr Grünraum, Bäumen und Platz für Radfahrer und Fußgängerinnen. Ersteres kostet ein paar Tausend Euro, letzteres über eine Million.

Welche Rolle kann so das Beteiligungsformat der Klimateams in der Klimastrategie Wiens spielen?

Die Klimastrategie, in Wien »Klimafahrplan«, beinhaltet den gesamten Weg bis hin zur Klimaneutralität 2040 auf allen Ebenen mit konkreten Maßnahmen und Hebeln, mit Zwischenzielen und hinterlegten CO2-Budgets. Ich glaube, dass gerade in einer sehr schwierigen Phase für die Demokratien, Good Governance entscheidend ist. Geplante Programme müssen auch wirklich abgearbeitet werden. Die ausführenden Akteur*innen müssen sich in die Karten schauen lassen. Sicher, Klimapolitik braucht immer mutige, klare Ziele, auch wenn es populistisch gesehen nicht in die Agenda passt. Aber es wird ohne eine Beteiligung von unten nicht funktionieren. Diese Verbindung aus einer nachvollziehbaren Strategie und Verbindlichkeit unter der Beteiligung von Menschen auf dem Weg ist zentral. Insofern ist die Beteiligung und damit die Klimateams eine zentrale Leitlinie unseres Klimafahrplans.

Sie sagen, Beteiligungsformate im Ressort Klima und Umwelt können dabei unterstützen, der autoritären Wende entgegenzusteuern. Die Stadt Wien hat den Bereich Demokratie im Ressort Klima angesiedelt. Landauf, landab zählt Klima aber zu den am wenigsten angesagten Themen. Da hätte man doch im Sinne des Volkssouveräns eigentlich sagen müssen, wir nehmen Wirtschaft, wir nehmen innere oder äußere Sicherheit, um die Bürger*innen zu beteiligen.

Ich würde sagen, Ja und Nein. Nein insofern, als dass Beteiligung gut zum Thema Umwelt und Klima passt, weil natürlich Umweltpolitik oder Klimapolitik sehr eng mit der Frage verbunden sind, wie hoch die Lebensqualität in einer Stadt ist. Die lebensnahe Veränderung von Stadt hat eine unmittelbare Bedeutung für Menschen, die sich vielleicht nicht im Metadiskurs über Klimapolitik Gedanken machen, aber sehr wohl darum, ob es in den eigenen vier Wänden so kühl ist, dass man durchschlafen kann nach acht oder neun Hitzetagen, vor allem wenn man sich keine Wohnung mit Klimaanlage und Balkon leisten kann. Ja, im Sinne Ihrer Frage, es wäre ein Problem, wenn man den Beteiligungsansatz nur auf Klimapolitik anwenden würde. Aber so ist es in Wien nicht gemeint. Wien ist gerade die Demokratiehauptstadt Europas. Unser Kampf erstreckt sich etwa auch darauf, in Österreich das reaktionäre Staatsbürgerschaftsrecht zu verändern, dass der Zugang zum Pass erleichtert wird. Ziel sind Beteiligungsprojekte in allen Politikfeldern. Sie haben völlig recht, wenn eine Demokratie oder eine Stadt in den anderen Bereichen keine Antworten findet im Hinblick auf die Einbindung der Bürger*innen, würde sie eher zur Krise beitragen, als diese lösen.

Die Gesellschaft ist polarisiert zwischen Großstädten und ländlichen Regionen. Wien ist Hauptstadt. In Ihrer Geburtsstadt etwa, in Eisenstadt an der ungarischen Grenze, in der 16 000 Menschen wohnen, regiert die ÖVP mit über 50 Prozent der Sitze. Wie kann eine Metropole nicht immer nur Kontrapunkt sein, sondern auch dazu beitragen, die Polarisierung aufzuheben?

Weltweit hat sich der urbane Raum anders entwickelt als der ländliche. Städte sind der ideale Ort, eine neue, eine positive, eine hoffnungsvolle Demokratie-Entwicklung zu starten. Wir haben nur noch ein paar Jahre Zeit, um eine neue erfahrbare Demokratie-Erzählung zu entwickeln, weil, wenn das nicht gelingt, dann bleiben demokratische Strukturen formal bestehen aber werden entkernt. In Städten geht das meiner Meinung nach einfacher, weil sie Orte sind, wo Menschen unterschiedlichster Hintergründe zusammenkommen, das ist kein Fantasma, sondern der sitzt einem gegenüber in der U-Bahn oder wohnt auf der gleichen Stiege. Auf dem Land sehen wir, dass dort, wo die FPÖ ganz stark eingebrochen ist, die Verortung traditioneller Parteien oder parteinaher zivilgesellschaftlicher Organisationen im Ehrenamt auch total erodiert ist. In Österreich wäre das klassisch die Feuerwehr im Dorf, die Blasmusik und unterschiedliche Verbände. In diesen Verbänden finden sich auch politische Akteur*innen wieder. Und da gab es einen richtigen Bruch. Einmal im totalen Rückgang dieses ehrenamtlichen Engagements in strukturschwachen Regionen. Und Orte sind verschwunden, wo Menschen aufeinandertreffen und sich austauschen können, obwohl sie unterschiedliche politische Zugänge haben, unterschiedliche Lebensrealitäten. Eine Demokratie verteidigt sich aber nicht von selbst. Sie ist nicht eine Ordnung, die ist, sondern ein Prozess, der gemacht wird, und insofern ist es schon die Aufgabe von Städter*innen, das zu einem zentralen Thema zu machen oder vielleicht Startschuss einer Demokratiebewegung zu werden.

Auf welche Punkte Berlins schauen Sie, und wo ist Wien Vorreiter?

In Berlin kann ich mir unglaublich viel abschauen, weil Berlin aufgrund der Größe und Eigenständigkeit der Stadtteile so viele unterschiedliche Lösungszugänge hat. Es gibt eine größere Urwüchsigkeit und weniger Top-Down-Strategie. Wien ist eher als Wiener Weg verstehbar – es gibt keine so großen Unterschiede wie in Berlin. Wir sind bereit, Dinge weitsichtig zu entscheiden und dann über Jahrzehnte abzuarbeiten. Das zentrale Wesensmerkmal ist dabei, wie Wien eine Stadt für alle sein kann – das ist die direkte rote Linie vom Roten Wien in den 1920er Jahren bis heute.

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