Gaza: »83 Prozent der Opfer sind Zivilisten«

Das Magazin +972 veröffentlicht interne Daten der israelischen Armee. Sie widersprechen den Darstellungen der Regierung diametral

Nach den israelischen Angriffen auf das Nasser-Krankenhaus in Chan Yunis
Nach den israelischen Angriffen auf das Nasser-Krankenhaus in Chan Yunis

Einer Recherche des linken israelischen Magazins »+972« zufolge sind mindestens 83 Prozent der in Gaza getöteten Palästinenser*innen zivile Opfer. Das geht aus Daten des israelischen Militärgeheimdienstes Aman hervor, die »+972« gemeinsam mit der britischen Tageszeitung »The Guardian« und der israelischen Plattform Local Call auswerten konnte.

Die klassifizierten Informationen, so »+972«, stehen in drastischem Widerspruch zu den offiziellen Angaben der israelischen Regierung, die das Verhältnis zwischen zivilen und militärischen Opfern stets mit einer Quote von eins zu eins oder zwei zu eins beziffert hat. Zieht man hingegen die vom Militärgeheimdienst Aman erfassten Zahlen getöteter Hamas-Kämpfer heran, ergibt sich ein Verhältnis von fünf zu eins.

Insgesamt, so das Magazin »+972«, gehe die israelische Armee von 35 700 Militanten des Islamischen Dschihad aus. Aus diesem Kreis seien laut Nachrichtendienst zwischen Oktober 2023 und Mai 2025 etwa 8900 Personen getötet worden – darunter 100 bis 300 Personen des auf 750 Personen bezifferten Hamas-Führungskaders. Die Zahl der palästinensischen Todesopfer wurde im Mai (dem von »+972« herangezogenen Referenzmonat) auf 53 000 geschätzt.

Ein Mitarbeiter des Armeegeheimdienstes bezeichnet die Zahlen der Regierung über getötete Hamas-Kämpfer als »Lügenmärchen des Südkommandos«.

Die israelische Regierung beziffert die Verluste von Hamas und Islamischem Dschihad deutlich höher, als es die Datenbank des Nachrichtendienstes nahelegt. Bereits Ende 2024 sprach Ministerpräsident Netanjahu davon, man habe »knapp 20 000« palästinensische Kämpfer getötet. Das Magazin »+972« zitiert nun einen Mitarbeiter des Armeegeheimdienstes, der derartige Zahlen als »Lügenmärchen des Südkommandos« bezeichnet. Wenn er den jeweiligen Einheiten glauben würde, käme er zu dem Schluss, »dass wir 200 Prozent der Hamas-Kämpfer in einem Gebiet getötet haben«, so die nicht namentlich genannte Quelle von »+972«.

Die deutlich niedrigeren Zahlen des Geheimdienstes decken sich offenbar mit Recherchen palästinensischer Autoren. »+972« zitiert den Forscher Muhammad Shehada, dem gegenüber Hamas und Islamischer Dschihad Ende 2024 bestätigten, 6500 Angehörige beider Organisationen (einschließlich ihrer politischen Flügel) seien bei israelischen Operationen getötet worden.

»Sie lügen ununterbrochen«

Die Informationspolitik der Regierung stößt mittlerweile offenbar auch in den Reihen der israelischen Armee auf offenen Widerspruch. »Sie lügen ununterbrochen«, zitiert »+972« den Generalmajor und ehemaligen Ombudsmann der Armee Itzhak Brik. »Sowohl die militärische als auch die politische Führung. (…) Es gibt keinerlei Verbindung zwischen den Zahlen, die sie nennen, und den realen Ereignissen.«

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Damit wird erneut die Debatte befeuert, welche Ziele Israel in Gaza verfolgt – die Zerstörung der Hamas oder die Vertreibung bzw. Auslöschung der palästinensischen Bevölkerung. Die meisten westlichen Medien halten an der Darstellung der israelischen Regierung fest, wonach es um die Zerschlagung von Terrororganisationen gehe. Recherchen israelischer Medien verwiesen jedoch bereits im November 2023 darauf, dass Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung aufgehoben wurden. So autorisierte die Armeeführung die Ermordung von 100 Zivilisten, wenn dabei ein einziger hoher Hamas-Kommandant getötet wurde, sowie von 20 Zivilisten bei einem niederen Hamas-Kommandeur.

Aufgrund dieser rücksichtslosen Kriegführung ist das Verhältnis zwischen zivilen und militärischen Opfern in Gaza laut »+972« so hoch wie in kaum einem bewaffneten Konflikt der letzten Jahrzehnte. Nur bei dem Massaker 1994 in Ruanda, dem Sturm auf die ukrainische Stadt Mariupol 2022 und den Massakern in der bosnischen Ortschaft Srebrenica 1992 bis 1995 sei der Anteil getöteter Zivilisten höher gewesen als derzeit in dem abgeriegelten palästinensischen Küstenstreifen. Der gezielte Angriff auf ein palästinensisches Rettungsteam Anfang der Woche im Nasser-Krankenhaus in Chan Yunis fügt sich ein in dieses Bild.

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