Wohnungslosigkeit: Das Recht auf Kindheit

Mehr als 15 000 Minderjährige gelten in Berlin als wohnungslos

Verlorene Kindheit: Zuletzt ist die Zahl wohnungsloser Minderjähriger deutlich gestiegen.
Verlorene Kindheit: Zuletzt ist die Zahl wohnungsloser Minderjähriger deutlich gestiegen.

Nein, einladend sind Heime für Wohnungslose im Regelfall nicht. Kahle Wände, beengte Zimmer, Schmutz in den Gemeinschaftsräumen – selbst in Wohnheimen mit gehobenen Qualitätsansprüchen sieht es so aus, in vielen anderen noch viel schlimmer. Dass Bewohner mit Suchtproblemen oder psychischen Erkrankungen kämpfen, ist die Regel und nicht die Ausnahme, Konflikte sind an der Tagesordnung. Wegen der schwierigen hygienischen Verhältnisse kommt es immer wieder zu Ausbrüchen von Krätze oder Läusebefall.

Eigentlich keine Umgebung für ein Kind, würde man meinen. Doch tatsächlich befinden sich tausende Minderjährige berlinweit in solchen Einrichtungen nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (Asog). 15 710 Minderjährige galten zu Beginn des Jahres als wohnungslos, wie eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Taylan Kurt gezeigt hat. 2022 waren es gerade mal 3839. Insgesamt ist etwa ein Drittel der Wohnungslosen minderjährig. Zum übergroßen Teil leben sie gemeinsam mit ihren Eltern in den Einrichtungen.

Die Vervierfachung ist allerdings nicht auf einen plötzlichen Anstieg von Wohnungslosigkeit zurückzuführen, sondern ein statistischer Effekt: Flüchtlinge, die ihr Asylverfahren durchlaufen haben, aber weiterhin in einer Einrichtung des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) leben, gelten als wohnungslos, bis sie eine Wohnung auf dem freien Markt finden. Hinter dem Anstieg steht also vor allem der Zuzug von Flüchtlingen. Allein im Bezirk Marzahn-Hellersdorf leben von den 6000 registrierten Wohnungslosen 4000 in LAF-Einrichtungen. Nicht abgebildet ist in der Statistik allerdings die Dunkelziffer von Wohnungslosen, die in informellen Wohnverhältnissen leben und beispielsweise bei Bekannten auf der Couch schlafen.

»Jedes Kind hat ein Recht auf Schutz, Begleitung und Teilhabe«, sagt Franziska Brychcy, bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. Gemeinsam mit Vertretern der Linkspartei in den Bezirken hat sie am Donnerstag zu einer Pressekonferenz geladen. Die Fraktionen der Linken in den Bezirksverordnetenversammlungen haben Anfragen gestellt, um die Situation der minderjährigen Wohnungslosen zu beleuchten. Zehn Bezirksämter haben bislang geantwortet.

»Die meisten Unterkünfte sind keine speziellen Familienunterkünfte«, sagt Brychcy. In den Asog- und LAF-Einrichtungen sei ein normales Familienleben kaum möglich. »Das ist keine kindgerechte Umgebung«, so Brychcy. Mal einen Schulfreund nach Hause mitbringen oder einen Kindergeburtstag feiern – in den Wohnheimen sei das quasi unmöglich.

Ein Fünftel der wohnungslosen Minderjährigen lebe schon länger als drei Jahre in den Unterkünften. »Für ein Kind ist das eine Ewigkeit«, sagt Brychcy. Immerhin durchlaufe man in dieser Zeit schon einen Großteil der Grundschule.

Auch Juliane Witt (Linke), Bezirksstadträtin für Soziales und Bürgerdienste in Marzahn-Hellersdorf, kennt die Problematik. Der Bezirksverband der Linkspartei organisiere jährlich eine Verteilaktion von Weihnachtsgeschenken für wohnungslose Kinder. Bei der Aktion sei ihr aufgefallen, wie viele Familien Jahr für Jahr aufs Neue Geschenke abholen – also offenbar dauerhaft in den Einrichtungen leben.

In Tempelhof-Schöneberg gibt es nur in vier von 62 Wohnheimen Sozialarbeiter im Haus.

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Die Qualität der Einrichtungen schwankt stark. Nur etwa zehn Prozent der Asog-Einrichtungen werden von gemeinnützigen Trägern oder den Bezirken selbst unterhalten, der Rest von kommerziellen Anbietern. Ein regelrechter »Wildwuchs« finde bei den privaten Wohnheimen statt, schreibt die Linke in einem Papier zur Lage. Verträge, mit denen etwa Personalschlüssel oder ein Mindestlevel an sozialen Angeboten geregelt werden könnten, werden zumeist nicht abgeschlossen. Im Bezirk Tempelhof-Schöneberg beispielsweise gibt es nur in vier von 62 Einrichtungen Sozialarbeiter im Haus.

In Marzahn-Hellersdorf gibt es dagegen in der Mehrheit der Asog-Unterkünfte Sozialarbeiter. Der Grund: Der Bezirk versuche, mit allen Trägern von Unterkünften auch Verträge über die dortigen Konditionen abzuschließen, berichtet Bezirksstadträtin Witt. »Wir sind in der Verantwortung, Qualitätskriterien zu sichern«, sagt sie. Dazu gehöre etwa, dass verschließbare Schränke vorgeschrieben werden und die Zahl der Betten pro Raum begrenzt wird. Zuletzt versuche man auch vermehrt, Etagen für Frauen und Mütter mit Kindern zu reservieren. Dafür nehme der Bezirk in Kauf, höhere Tagessätze zahlen zu müssen, so Witt.

»Das Land übernimmt keine Verantwortung bei der Standortsuche«, sagt Witt. Ein landesweites IT-System, in dem freie Plätze in Wohnheimen verzeichnet sind, gebe es nicht. »Die Kollegen müssen die Einrichtungen durchtelefonieren«, sagt sie. Die Bezirke sind für die Zuteilung und Unterbringung der Wohnungslosen zuständig.

Dabei könne der Senat durchaus Einfluss auf die Qualität der Einrichtungen nehmen. Unter den Linke-Sozialsenatorinnen Elke Breitenbach und Katja Kipping war noch geplant worden, eine gesamtstädtische Steuerung der Unterbringung zu etablieren. Doch der schwarz-rote Senat speckte das Vorhaben zuletzt deutlich ab. Statt einheitlicher Qualitätsstandards ist derzeit nur eine landesweite Erfassung aller Unterkünfte geplant.

Auch mit gehobenen Qualitätsansprüchen können Wohnheime nur eine Zwischenlösung sein, findet die Linke-Abgeordnete Katina Schubert. »Oberste Priorität muss sein, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen«, sagt sie. Die landeseigenen Wohnungsunternehmen und gewerbliche Vermieter mit mehr als 25 Wohnungen müssten verpflichtet werden, einen Teil ihrer Wohnungen an wohnungslose Familien zu vermieten.

Ein anderes Instrument stehe theoretisch schon jetzt zur Verfügung, werde aber kaum genutzt. Die Ausführungsvorschriften Wohnen (AV Wohnen) regeln, bis zu welcher Höhe Jobcenter und Sozialämter die Wohnungskosten von Leistungsempfängern übernehmen. Eine Erprobungsklausel in der AV Wohnen erlaubt, dass unter bestimmten Umständen auch über diese Grenzen hinausgehende Mieten von den Ämtern übernommen werden. Genutzt werde das aber nur selten, berichtet Schubert.

Dabei könnten auf diesem Weg nicht nur Familien mit Wohnraum versorgt werden – es könnte auch Geld gespart werden. »Für die Tagessätze kann man eine Villa anmieten«, sagt Schubert. Die Unterbringung in Asog-Einrichtungen sei häufig doppelt so teuer wie die Kosten einer eigenen Wohnung. Doch zurzeit fehle es in den Ämtern an Wissen über die Erprobungsklausel.

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