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Von wegen Jobkiller
Die Einführung des Mindestlohns hat das Beschäftigungsniveau nicht verändert
Der Mindestlohn könne das Beschäftigungsniveau senken – mit dieser Befürchtung argumentierten vor allem Arbeitgeberverbände gegen die Einführung des Mindestlohns 2015 und gegen seine Erhöhung. Nun erklärt die Bundesregierung aus Union und SPD auf eine Kleine Anfrage der Linke-Abgeordneten Anne Zerr, die »nd« vorliegt: Das stimme so nicht. Der Mindestlohn habe in den vergangenen zehn Jahren keinen Einfluss auf die Beschäftigungsquote gehabt. Das zeige eine »Vielzahl von Studien«, die seit 2015 durchgeführt wurden, so die Antwort aus dem SPD-geführten Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, gibt allerdings auf Nachfrage der »Rheinischen Post« zu bedenken, dass es seitdem eine Verschiebung der Beschäftigung zwischen Arbeitgebern gegeben habe. Insbesondere kleinere Betriebe in strukturschwächeren Regionen hätten deshalb Beschäftigte verloren.
Derzeit liegt der Mindestlohn bei 12,82 Euro pro Stunde, bis 2027 soll er auf 14,60 Euro steigen. Die letzte Erhöhung orientierte sich erstmals nicht nur nachlaufend an der Tarifentwicklung, sondern auch am Zielwert von 60 Prozent des Medianlohns der Vollzeitbeschäftigten. Damit wäre laut Berechnungen der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung bereits 2025 ein Mindestlohn von rund 15 Euro erforderlich.
»Der Mindestlohn muss ein entscheidender Schutz davor sein, dass Menschen nicht trotz Erwerbsarbeit in Armut leben müssen.«
Anne Zerr Die Linke
Die Linke kritisiert, durch die Anwendung der Median-Berechnung werde ausgeklammert, dass in Deutschland das oberste eine Prozent 213 000 Euro verdient, und so werde »die reelle Lohn- und Einkommensungleichheit« verschleiert. Die Partei fordert 2026 eine Erhöhung auf 16 Euro. »Der Mindestlohn muss ein entscheidender Schutz davor sein, dass Menschen nicht trotz Erwerbsarbeit in Armut leben müssen. De facto tun dies auch heute viel zu viele arbeitende Menschen. Dies ist ein politisches Versagen«, kritisiert Zerr.
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Die Bundesregierung plant laut Beantwortung der Kleinen Anfrage nicht, die Schutzfunktion des Mindestlohngesetzes auszuweiten. Damit gilt er weiterhin nicht für Praktikant*innen, Langzeitarbeitslose, Beschäftigte unter 18 Jahren und ohne Berufsausbildung und für Beschäftigte in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Das BMAS begründet das mit dem Arbeitnehmerbegriff, auf dem das Mindestlohngesetz fußt. Menschen mit Behinderungen in Werkstätten stehen demnach nur »in einem arbeitnehmerähnlichen Verhältnis«.
Das entsprechende Gesetz von 1996 sollte ursprünglich das Arbeitsverhältnis in Werkstätten schützen, ohne dass die gleichen Verpflichtungen wie in einem regulären Arbeitnehmer*innenverhältnis entstehen. So können Menschen in Werkstätten beispielsweise nicht gekündigt werden. Das durchschnittliche Werkstattentgelt liegt bei rund 220 Euro im Monat, das sind 1,46 Euro pro Stunde.
Langzeitarbeitslose, also Personen, die länger als ein Jahr keine Arbeit hatten, müssen den Mindestlohn im ersten halben Jahr nach einer Anstellung nicht erhalten. Das soll Unternehmen ihre Einstellung erleichtern. Die Regelung wird laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nur selten in Anspruch genommen und hat deshalb auch keinen nachweisbaren Effekt auf die Löhne. Für Personen in Ausbildung gilt der Mindestlohn nicht, um »eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt« zu garantieren. Zerr zufolge sind diese Ausschlüsse »ein Skandal«. Das Gesetz »degradiert diese Menschen zu Beschäftigten zweiter Klasse«.
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