Görlitz: Eine Stadt wird ausprobiert

Das in Görlitz erfundene Konzept des Probewohnens wird immer populärer

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 3 Min.
Probewohnen – Görlitz: Eine Stadt wird ausprobiert

»Wiesen, Wälder und WLAN statt Wohnungsnot«: Mit diesem Slogan warb das Erzgebirge in diesem Jahr um Großstädter, die vier Wochen das Leben in der ländlichen Region ausprobieren wollen. Im August hieß man schließlich eine dreiköpfige Berliner Familie in Zwönitz willkommen.

Ein solches »Probewohnen« gibt es inzwischen in vielen ostdeutschen Städten: Guben, Wittenberge, Eberswalde, demnächst auch in Bautzen. Erfunden wurde das Konzept 2008 in Görlitz. Dort suchte man zunächst Bewohner der Plattenbauten am Stadtrand vom Umzug in eines der vielen verwaisten Gründerzeithäuser im Zentrum zu überzeugen. Später richtete sich die Einladung an Menschen von außerhalb. Görlitz, dessen Bevölkerungszahl sich mittlerweile bei rund 57 000 eingepegelt hat, sei wegen der demografischen Struktur dennoch »auf Zuzug von außen angewiesen«, wenn die Einwohnerzahl mittelfristig stabil bleiben solle, sagt Robert Knippschild, Professor am Leibnitz-Institut für ökologische Raumentwicklung.

Dem Institut obliegt seit gut einem Jahrzehnt die wissenschaftliche Begleitung des Probewohnens in Görlitz – eines Konzepts, das sich stetig weiterentwickelt hat. Zunächst wurden Interessenten für vier Wochen eingeladen; der Aufenthalt hatte »eher den Charakter eines Kurzurlaubs«, sagt Knippschild. Es kamen viele Senioren, womit Görlitz an seinen Ruf als »Pensionopolis« für preußische Beamte aus dem vorigen Jahrhundert anknüpfte. Später wurde die Dauer des Aufenthalts schrittweise auf drei Monate verlängert; zudem adressierte man stärker Menschen, die im Berufsleben stehen und durch Engagement etwa in ökologischer Hinsicht das Stadtleben bereichern können. Görlitz und andere Städte, konstatiert der Wissenschaftler, hätten »einen konkreten Bedarf für Zuzug von Fachkräften, Menschen mit innovativen Geschäftsideen und Engagement im Ehrenamt«.

Die aktuelle, im Mai 2025 begonnene Staffel des Probewohnens richtet sich an Mitarbeiter des Deutschen Zentrums für Astrophysik, das im Zuge des Strukturwandels in Görlitz angesiedelt wird und mittelfristig bis zu 1000 Arbeitsplätze schaffen könnte. Für die Stadt wäre es gut, wenn möglichst viele von ihnen nach Görlitz ziehen und nicht pendeln. Durch Befragungen während des Probewohnens will man erforschen, wie die Stadt für derlei hoch ausgebildete Fachkräfte attraktiv werden kann.

Schon bisher hat sich herausgestellt, dass Görlitz nicht nur mit preiswertem Wohnraum punkten kann, sondern für die überwiegend aus Metropolen stammenden »Probebewohner« auch durch ein gutes Kultur- und Freizeitangebot, kurze Wege, viel Grün und fehlenden Großstadtlärm attraktiv ist. Zudem wird die Aufgeschlossenheit der Görlitzer gelobt. »Die Offenheit einer Kommune für Zuzug ist entscheidend für den Erfolg des Konzepts«, sagt Knippschild. Zugleich gibt es in Görlitz Defizite etwa bei autofreier Mobilität. Die Studien zum Probewohnen münden regelmäßig in entsprechende Empfehlungen an die Stadtpolitik.

Die bei der wissenschaftlichen Begleitung gewonnenen Erkenntnisse seien auch für andere Städte relevant, sagt Knippschild. Transformationsprozesse mit Schrumpfung und Leerstand träfen viele kleine und mittelgroße Kommunen; gleichzeitig könnten diese unter passenden Bedingungen eine »Entlastungsstruktur für die zunehmend überlaufenden Großstädte« darstellen. In Görlitz ist das zumindest in einigen Fällen gelungen: Etwa jeder zehnte Teilnehmer, sagt Knippschild, zog nach dem Aufenthalt auf Probe dauerhaft in die Stadt.

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