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Charité-Diagnose: Kritisch überlastet
Assistenzärzte an der Charité verfassen Brandbrief
Eigentlich sollen sie die Gesundheit anderer schützen – doch Assistenzärzte an der Charité befürchten, dass sie ihre eigene Gesundheit gefährden könnten. »Gesetzlich verankerte Arbeitszeitgrenzen werden regelmäßig überschritten, stillschweigend und anscheinend folgenlos«, heißt es in einem Brandbrief, den an den zur Charité gehörenden Krankenhäusern tätige Assistenzärzte in der vergangenen Woche veröffentlichten. »Wer nicht handelt, gefährdet nicht nur das Personal – sondern die Patient*innenversorgung als Ganzes«, heißt es weiter.
Der Grund für die Sorge der Assistenzärzte: Die Charité plant eine Reform der Dienstzeiten des medizinischen Personals. Der Kerninhalt dieser Reform klingt zunächst erfreulich: Die Wochenarbeitszeit wird von 42 auf 40 Stunden reduziert. Dies gilt bereits seit Februar, nachdem sich die Charité und Gewerkschaften im vergangenen Jahr auf eine entsprechende Tarifregelung geeinigt haben.
Um die wegfallende Arbeitszeit auszugleichen, setzt die Charité-Führung anscheinend auf individuelle Absprachen mit ärztlichen Beschäftigten. Zahlreichen von ihnen wurde offenbar nahegelegt, eine Nebenabrede zu unterzeichnen, mit der die individuelle wöchentliche Arbeitszeit auf bis zu 48 Stunden erhöht werden kann. Eine Unterschrift hat für die Betroffenen schwere Folgen: Überstundenzuschläge werden auf die zusätzliche Arbeitszeit nicht gezahlt, kündbar ist die Nebenabrede nur mit einer Frist von zwölf Monaten, wie die Ärztegewerkschaft Marburger Bund ihre Mitglieder warnt.
»Kolleg*innen berichten von spürbarem Druck, die Nebenabrede zu unterzeichnen«, heißt es in dem offenen Brief. Es werde etwa darauf verwiesen, dass elementare Ausbildungsinhalte nur vermittelt werden könnten, wenn die Assistenzärzte sich auf die ausgeweiteten Arbeitszeiten einließen. Dies gelte etwa für das Beobachten von Operationen.
Bei den Ärzten treffe der Plan der Charité-Leitung auf Ablehnung, erklären die Initiatoren des Brandbriefs. Eine Umfrage, an der sich mit 670 Ärzten ein Viertel des ärztlichen Personals beteiligt habe, habe gezeigt, dass 78 Prozent der Befragten die geplante Maßnahme kategorisch ablehnten. Ein Drittel der Befragten erwäge sogar die Kündigung.
Gefahr sehen die Initiatoren des Brandbriefs nicht nur für die betroffenen Ärzte, sondern auch für die rund eine Million Patienten, die jährlich in Krankenhäusern der Charité behandelt werden. Denn Teil der Dienststrukturumstellung sei auch, das Betreuungsverhältnis von Ärzten zu Patienten zu reduzieren. Dies gelte besonders für die Nachtzeiten: Künftig sollen nach den Plänen der Charité-Leitung nachts mehrere Stationen zusammengelegt werden, so dass weniger Ärzte dort mehr Patienten betreuen müssen.
»Kolleg*innen berichten von spürbarem Druck, die Nebenabrede zu unterzeichnen.«
Brandbrief von Assistenzärzten
Zukünftig werde nachts ein Arzt für 70 Patienten zuständig sein, warnen die Verfasser des Brandbriefs. Dabei seien nun auch Patienten, die nicht zum eigenen Fachgebiet gehörten. »Darunter leidet nicht nur die Versorgungsgeschwindigkeit unter anderem bei medizinischen Notfällen, sondern zusätzlich auch die Qualität«, warnen die Initiatoren des Brandbriefs. Sie zeichnen ein düsteres Bild: »Falsche Entscheidungen, Verzögerungen und Versorgungsfehler werden unter diesen Bedingungen unausweichlich.«
Statt die Arbeitszeiten zu verlängern, müsste die Charité mehr Personal einstellen, verlangen die Assistenzärzte. Alle Reformaspekte, die die Arbeitsbedingungen des medizinischen Personals oder die Versorgungsqualität verschlechtern, müssten zurückgenommen werden. Das Land müsse die Finanzierung der Charité aufstocken.
»Eine dauerhafte Unterfinanzierung der Universitätsmedizin, seit Langem unzureichende Investitionen in die Infrastruktur sowie die derzeit vom Abgeordnetenhaus diskutierte Reduktion des Landeszuschusses für die Charité um mehr als 130 Millionen Euro in den kommenden Jahren machen Anpassungen in den Strukturen der Charité unausweichlich«, teilt ein Charité-Sprecher auf nd-Anfrage mit.
Die tariflich vereinbarte Reduzierung der Arbeitszeit stelle für manche Bereiche eine »Herausforderung« dar, heißt es von der Charité. Dieser begegne man mit der Einstellung von Ärzten. Die Unterzeichnung von Nebenabreden sei freiwillig. »Uns sind weder direkt noch über unser anonymes Meldesystem Fälle bekannt geworden, in denen Druck ausgeübt wurde, dieses Modell zu wählen«, sagt der Charité-Vertreter. »Allein die geringe Anzahl dieser Vereinbarungen widerspricht dieser Annahme.«
Durch die Reform der Dienststruktur solle es zu keinen Qualitätsverlusten bei der Patientenversorgung kommen, versichert der Charité-Sprecher. »Durch eine Verkürzung der Arbeitszeit der Ärztinnen und Ärzte ist eher eine Verbesserung zu erwarten«, heißt es weiter.
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