»Ein Großteil des Marxismus war Engelsismus«

Giovanni Sgro’ über das Werk von Friedrich Engels und dessen Anteil am Weltanschauungsmarxismus

  • Interview: Sebastian Klauke
  • Lesedauer: 6 Min.
Das Moskauer Denkmal ehrt Friedrich Engels – auch als großen Marxisten.
Das Moskauer Denkmal ehrt Friedrich Engels – auch als großen Marxisten.

Im Juli dieses Jahres erschien ihr Buch »Zwischen Marx und Marxismus«, in dem Sie Friedrich Engels’ Rolle im Denken und der Entwicklung des Marxismus beleuchten. Worum geht es Ihnen dabei?

Der Hauptzweck meiner Arbeit besteht darin, Engels als eigenständigen Denker ernst zu nehmen und in seiner Eigenart zu würdigen. Das schließt nicht aus, sondern verlangt geradezu, auch seine theoretischen Schwachstellen und Fehlinterpretationen offenzulegen. Im Zentrum steht dabei das philosophische Werk des späten Engels (1873–1895), insbesondere seine Deutung der Hegelschen Dialektik und seine Einschätzung der Rolle, die Feuerbach in der Auflösung der klassischen deutschen Philosophie und in der Herausbildung der materialistischen Geschichtsauffassung gespielt hat.

Marx und Engels werden oft in einem Atemzug genannt, Sie plädieren aber für Engels’ Eigenständigkeit. Warum?

Schon Antonio Gramsci hatte es in den 1930er Jahren nachdrücklich betont und ich halte es nach wie vor für notwendig, Engels von Marx zu unterscheiden. Und zwar nicht, weil Engels’ Loyalität infrage gestellt werden soll, sondern um der einfachen Tatsache Rechnung zu tragen, dass Engels nicht Marx ist. Anstatt die beiden in eine Art »Heilige Zweifaltigkeit« undifferenziert zu verschmelzen, kommt es meines Erachtens vielmehr darauf an, die eigentümlichen Differenzen und spezifischen Fachkompetenzen zwischen Marx und Engels zu rekonstruieren und zu betonen.

Interview
Giovanni Sgro

Giovanni Sgro’ ist als assoziierter Professor für Geschichte der Philosophie an der Universität e-Campus zu Novedrate (Como/Italien) tätig. Er verfasste zahlreiche Publikationen zu Hegel, Marx, Engels sowie Max Weber. Zudem übersetzte er Werke von Marx und Engels ins Italienische und ist Herausgeber von zahlreichen Sammelbänden zum Thema. Sein Buch »Zwischen Marx und Marxismus. Friedrich Engels und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« (152 S., br., 22 €) erschien im Berliner Dietz Verlag.

Was zeichnet Engels’ Philosophie gegenüber der Marxschen aus?

In Engels’ Auffassung ist die Beziehung zwischen materialistischer und idealistischer Dialektik ein Verhältnis von polarem Gegensatz und spiegelbildlicher Verkehrung. Dennoch blieben für beide die Grundstrukturen der dialektischen Bewegungsgesetze gültig und unverändert, die Hegel in korrekter Weise beschrieben habe, auch wenn er sie mit einer mystischen Hülle bedeckt habe. Engels stellt die Verkehrung der hegelschen idealistischen Dialektik als einfache Umkehrung der Richtung dar: Die drei Gesetze der materialistischen Dialektik (Umschlagen von Quantität in Qualität und umgekehrt, Durchdringung der Gegensätze und Negation der Negation) seien dieselben Gesetze, die Hegel formuliert habe. Dessen einziger Fehler bestand laut Engels darin, solche Gesetze »von oben« als Denkgesetze aufzuerlegen, anstatt sie »von unten« aus Natur und Geschichte abzuleiten.

Könnten Sie ein Beispiel anbringen, um den Unterschied zwischen Engels’ und Marx’ Positionen zu verdeutlichen?

Das möchte ich anhand des Begriffs der Freiheit erklären. Bei Hegel ermöglicht die Kategorie der Wechselwirkung den Übergang vom Reich der blinden Notwendigkeit zum Reich der bewussten Freiheit. In gleicher Weise besteht Freiheit für Engels in der Erkenntnis und Bewusstwerdung der Notwendigkeit der unaufhaltsamen Naturgesetze, die im Übergang vom An-sich zum Für-sich unter die Sphäre der menschlichen Herrschaft subsumiert und damit vom An-sich zum Für-uns werden. Im Gegensatz zu Engels (und Hegel) besteht bei Marx das Reich der Freiheit nicht einfach im Bewusstwerden der Notwendigkeit natürlicher und historischer Gesetze und in ihrer Anwendung mit voller Sachkenntnis. Sondern das Reich der Freiheit beginnt (und beginnt erst) mit der Verkürzung des Arbeitstags, also mit der Befreiung von der Sklaverei der Lohnarbeit.

Wie gehen Sie also in Ihrer Untersuchung vor? Können Sie den Aufbau skizzieren?

Ja, gerne. Ich analysiere zuerst die Funktion der Kategorie Wechselwirkung im dialektischen System der Natur, das Engels in der unvollendeten »Dialektik der Natur« sowie im sogenannten Anti-Dühring entwickelt hat. Von dort aus rekonstruiere ich das breite und vielfältige Themenspektrum von Engels’ Werken aus der Zeit von 1883 bis 1895 und komme im dritten Kapitel zu seinem kulturpolitischem Pamphlet über Feuerbach aus dem Jahr 1886. Danach rekonstruiere ich die Strategie, die Marx und Engels in den Jahren 1867 bis 1895 angewendet haben, um ihre materialistische Geschichtsauffassung gegen die immer häufigeren Missverständnisse und Fehldeutungen ihrer Kritiker zu verteidigen. Im abschließenden fünften Kapitel bewerte ich die erzielten Ergebnisse philosophiehistorisch und gehe auf die Unterschiede zwischen Engels und Marx ein. Hier geht es dann auch um die Rolle, die Engels bei der Gründung des Marxismus gespielt hat, das heißt im Prozess der Umwandlung der ursprünglichen Marxschen kritischen Theorie in die marxistische Weltanschauung.

Welchen Anteil, welche Verantwortung hat in Ihren Augen Engels für diese Herausbildung des Marxismus als Weltanschauung? Wer waren andere wichtige Akteure?

Meines Erachtens hat Engels für die Begründung des Marxismus als Weltanschauung eine wesentliche Rolle gespielt. Vor allem seine intensive Arbeit zur Popularisierung des Marxismus, die er im »Anti-Dühring« exemplarisch geleistet hat, wird in der globalen Verbreitung des Marxismus eine entscheidende Rolle spielen – er kann als Begründer des Marxismus als Weltanschauung gelten. Weitere wichtige Akteure in diesem Prozess waren unter anderen Eduard Bernstein (1850–1932), Karl Kautsky (1854–1938), Georgi Plechanow (1856–1918) und Rudolf Hilferding (1877–1941).

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Was halten Sie von der Analyse, es gebe einen »Engelsismus«?

Ja, auch ich finde, dass der Umwandlungsprozess der ursprünglichen kritischen Marxschen Theorie in die marxistische Weltanschauung ‒ sei es bewusst oder, viel wahrscheinlicher, unbewusst; sei es gewollt oder, viel wahrscheinlicher, ungewollt ‒ von Engels selbst in seinen programmatisch popularisierenden Werken wie dem »Anti-Dühring« und dem »Feuerbach« vorbereitet und initiiert wurde. Der dialektische Materialismus ist hauptsächlich aus Engels’ späteren Schriften konstruiert worden und deshalb glaube ich auch behaupten zu können, dass ein Großteil des »Marxismus« des 20. Jahrhunderts im besten Fall nichts anderes war als mehr oder weniger bewusster »Engelsismus«.

Worin liegen die Unterschiede zur italienischen Ausgabe des Buches? Welche neuen Erkenntnisse gibt es seither?

Die Arbeit an der deutschen Fassung meines Buches gab mir die Gelegenheit, alle Zitate zu überprüfen, neue Textteile einzufügen, längere Fußnoten in den Haupttext zu integrieren und den Gesamttext stark zu überarbeiten. Die neue Literatur über Hegel, Feuerbach, Engels und Marx konnte nur noch selektiv und punktuell in den Fußnoten herangezogen werden. Eine intensive Rezeption und eine ausführliche Diskussion der Fülle an Publikationen der letzten acht Jahre bedürfen einer angemessenen Bearbeitungszeit und eines gebührenden Raums. Sie konnten deshalb nicht in diesem Buch erfolgen.

Welche Fragen müssten noch untersucht werden in diesen Zusammenhängen?

Zunächst einmal erscheint es mir notwendig, die zahlreichen Studien des letzten Jahrzehnts zu diesen Themen aufzunehmen und kritisch zu diskutieren. Auf dieser Grundlage, die vor allem durch die neuen Bände der »Marx-Engels-Gesamtausgabe« gesichert wurde, sollte etwa noch genauer die Abgrenzung zwischen Marx’ und Engels’ Denken nachvollzogen werden. Welche Konzepte stammen eindeutig von Marx, welche sind Engels’ eigene Beiträge? Ebenso ist von Interesse, wie andere Marxistinnen und Marxisten, etwa Kautsky, Luxemburg, Lenin und spätere Theoretiker, Engels’ Akzente übernommen oder verändert haben. Und schließlich ließe sich die Aktualität von Engels’ Denken bewerten. Welche Relevanz hat Engels’ Philosophie für heutige sozialistische und ökologische Debatten?

Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen

Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.

- Anzeige -
- Anzeige -