Kürzung bei der Rente: Der Muff von vier Jahrzehnten

Nicole Mayer-Ahuja macht Vorschläge, um die Finanzkrise bei der Rente zu lösen

Sozialabbau unter Friedrich Merz – Kürzung bei der Rente: Der Muff von vier Jahrzehnten

»Deutsche klammern sich an den Sozialstaat«, titelte »Focus«-Online vor kurzem. Zwar stimmte eine Mehrheit der von dem Magazin Befragten Friedrich Merz zu (»Wir können uns dieses System, das wir heute so haben, einfach nicht mehr leisten«). Besonders bei Rente und Krankenversicherung gehe die »Bereitschaft zu Reformen« jedoch »gegen null«: »Selbst die jüngeren Generationen sperren sich gegen Veränderungen, obwohl sie wissen, dass ihre Einzahlungen kaum für eine sichere Altersversorgung reichen«.

Das ist erstaunlich – behaupten Regierungen doch seit Helmut Kohl, es sei unzumutbar, dass junge Menschen für horrende Altersbezüge aufkommen müssen. Auch Wolfgang Streeck und Rolf Heinze, damals Berater der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder, behaupteten, »die abnehmende Bereitschaft der Jungen, für die vorgezogene Mallorca-Verschickung der Älteren finanziell aufzukommen«, verlange »nach einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit«. Dies umso mehr, als »ältere Menschen sich immer weniger aus dem Erwerbsleben wegsperren lassen werden, auch angesichts unvermeidlich sinkender Renten«.

Konfliktfeld Arbeit

Nicole Mayer-Ahuja ist Professorin für die Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Universität Göttingen. Sie forscht zu Veränderungen der Arbeitswelt, auch in transnationaler Perspektive. Außerhalb der Wissenschaft ist sie linken Gewerkschafter*innen seit Langem bekannt, eine breite Öffentlichkeit erreichte sie 2021 mit ihrem Sammelband »Verkannte Leistungsträger:innen« über Fahrradkuriere, Altenpflegerinnen oder Erntehelfer, den sie zusammen mit dem Soziologen Oliver Nachtwey herausgegeben hat. Mayer-Ahuja ist die erste Akademikerin in ihrer Familie. Aktuell untersucht sie Dynamiken von Arbeit in der Klassengesellschaft. Kapitalismus beruht auf Differenz und Konkurrenz - das prägt auch die Beziehungen zwischen Kolleg*innen, den Geschlechtern oder Einheimischen und Migrant*innen. Was bringt die Arbeitenden auseinander? Und welche gemeinsamen Erfahrungen mit Lohnarbeit lassen sich trotz alledem für eine solidarische Politik nutzen, die dazu beiträgt, dass das Verbindende (zeitweise) schwerer wiegt als das Trennende? Ihr neues Buch »Klassengesellschaft akut. Warum Lohnarbeit spaltet - und wie es anders gehen kann« erscheint am 18. September bei C.H. Beck.

Was lernen wir daraus? Erstens: Die schwarz-rote Koalition bringt keinen frischen Wind, sondern ventiliert den Muff von vier Jahrzehnten, indem sie Jung und Alt beim Thema Rente gegeneinander auszuspielen sucht – allen Sonntagsreden über »gesellschaftlichen Zusammenhalt« zum Trotz.

Zweitens: Der altbekannte Ruf nach Rentensenkungen wird wieder lauter – und zwar, obwohl von »Dolce Vita« im Alter keine Rede sein kann. Aktuell liegt die Standardrente (nach 45 Jahren Vollzeitarbeit) knapp über 1500 Euro (vor Steuern). Faktisch beziehen Männer im Schnitt etwa 1350 Euro (brutto), Frauen um die 900 Euro. Was will man da noch kürzen?

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Drittens: 40 Jahre Jammern über »unvermeidlich sinkende Renten« ist eine politische Bankrotterklärung, denn es gibt jede Menge Stellschrauben. »Unvermeidlich« sind Rentensenkungen nur, wenn man weiter auf die Beiträge von »Minijobber*innen«, aber auch von Beamt*innen oder Besserverdienenden verzichtet, indem man auf Einkommen ab 8050 Euro keine Sozialabgaben mehr erhebt. Beendet wäre die Finanzkrise der Rentenversicherung hingegen im Nu, wenn der Staat »versicherungsfremde« Leistungen voll übernähme, wenn Niedriglöhne zurückgedrängt und Reallöhne insgesamt steigen würden.

Und viertens: Ob jung oder alt: Alle abhängig Beschäftigten wissen, dass sie auf Rente angewiesen sind, wenn der Marktwert ihrer Arbeitskraft sinkt – immerhin scheiden viele vorzeitig aus, weil sie vernutzt ist oder niemand mehr dafür zahlen will. Durch Beiträge zur Rentenversicherung erwerben Beschäftigte den Rechtsanspruch, nicht den Kindern auf der Tasche zu liegen. Eine steuerfreie »Aktivrente« mag denjenigen, die gut verdienen und körperlich nicht hart arbeiten müssen, attraktiv erscheinen. Die allermeisten Beschäftigten hingegen brauchen eine verlässliche Alterssicherung – ohne Zwang, bis zum Umfallen zu arbeiten, weil die Rente nicht reicht. Auch laut Focus liegt der Grund für die »minimale« Reformbereitschaft darin, dass auf Rente »fast jeder angewiesen« ist – über Generationen hinweg.

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