Gefangen in der Jobcenter-Maschinerie

Arbeitslose fühlen sich von Jobcentern drangsaliert

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 4 Min.
»Ich war ganz unten« – Für viele bedeuten Sanktionen ein Leben am Abgrund.
»Ich war ganz unten« – Für viele bedeuten Sanktionen ein Leben am Abgrund.

Fast wäre Beatrice K. zugrunde gegangen: Vor zehn Jahren geriet die Berlinerin in das Räderwerk des Hartz-IV-Systems. Nachdem sie jahrelang als Minijobberin in einem Museum gearbeitet hatte, landete sie bei einer Jobcenter-Sachbearbeiterin, die ihr von Anfang signalisierte, dass es auf ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht ankommt. Die Frau überwies K. an eine Zeitarbeitsfirma, bei der diese unterschreiben sollte, dass sich die Firma in ihrem Namen bewerben kann. K. verweigerte die Unterschrift und das Jobcenter reagierte mit Sanktionen. Ihre Leistungen wurden erst um 30, später um 70 Prozent gekürzt.

»Nun konnte ich nur noch meine Miete bezahlen, denn ich wollte mit allen Mitteln verhindern, dass ich auch noch meine Wohnung verlor«, erzählt die mittlerweile 58-Jährige bei einer Veranstaltung des Vereins Teilhabe e.V. am Freitag. Mit einer Veranstaltungsreihe will er darüber aufklären, welche Menschen eigentlich hinter dem Begriff »Totalverweigernde« stehen, der heutzutage inflationär von Politiker*innen und Medien genutzt wird.

Für alles außer der Miete fehlte K. das Geld. Auch Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln konnte sie sich nicht mehr leisten. Trotzdem erhöhte die Sachbearbeiterin den Druck weiter. Weil K. angab, ein Schreiben des Jobcenters nicht erhalten zu haben, wurden alle Briefe vom Jobcenter bei der PIN-AG hinterlegt. »Ich musste fast jeden Tag mehrere Kilometer laufen, um die Briefe abzuholen«, erinnert sich die Frau. Es waren Stellenangebote im gesamten Bundesgebiet, obwohl sie Berlin nicht verlassen wollte. »Das war die Zeit, als ich durchdrehte«, erinnert sich K. »Ich habe keine Briefe mehr aufgemacht. Ich war ganz unten.«

Viele im Publikum teilen die Erfahrungen, die K. gemacht hat. »Ich wurde vom Amt regelrecht vergrault«, erzählt Martin, der seinen vollständigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. »Nachdem ich nach mehreren Sanktionen wieder beim Jobcenter vorgesprochen hatte, sagte mir der Sachbearbeiter ins Gesicht, dass er sich wundere, dass ich bei ihm überhaupt wieder auftauche«, berichtet er.

Auch Martina Höfer geriet in die Jobcenter-Maschinerie, war hochverschuldet und verlor sogar ihre Wohnung. Heutzutage verarbeitet sie ihre Erlebnisse als Liedermacherin. Auf der Veranstaltung gab sie einige Kostproben. »Über hunderttausend Male wird der Lebensbund zerstört, fliegen Menschen aus der Wohnung, was die Mehrheit nicht empört«, heißt es im Refrain in einem ihrer Songs.

»Ich habe keine Briefe mehr aufgemacht. Ich war ganz unten.«

Beatrice K. Ehemalige Arbeitslose

In den Medien kommt die Perspektive von Bürgergeldempfänger*innen nur selten vor. Vor allem in Talkshows seien die Betroffenen der Maßnahmen nur Objekte, sagt der Journalist Sebastian Friedrich bei einer Diskussion am Freitagabend. »Da kommen 1:45 Minuten Politiker*innen zu Wort, die gerade eine neue Verschärfung planen, dann spricht dazu ein Experte vor einer Bücherwand, dann kommt die Stimme einer Oppositionspolitiker*in, bevor schließlich maximal 20 Sekunden eine Betroffene, meistens eine Mutter am Küchentisch, sagen kann, ob sie glaubt, dass sich für sie etwas ändert«, berichtet er.

Teilhabe e.V. will die Veranstaltungsreihe fortsetzen: Am 26. und 27. September soll im Haus der Demokratie und Menschenrechte über Armut und Gefängnis diskutiert werden. Geplant ist auch ein Auftritt von nd-Redakteur Niels Seibert, der darüber berichten wird, dass viele arme Menschen in Gefängnissen Ersatzfreiheitsstrafen absitzen müssen, weil sie Geldstrafen nicht bezahlen können. Am 10. und 11. Oktober soll dann im Museum des Kapitalismus ein Blick auf Wohnungslosigkeit und Psychiatrie geworfen werden.

Dass Beatrice K. wieder aus ihrem Leidensweg rauskam, verdankt sie einer empathischen Gerichtsvollzieherin. Diese sollte eigentlich bei K. das Gas abstellen, weil diese die Rechnung nicht mehr zahlen konnte. Doch die Gerichtsvollzieherin erkannte die Situation von K. und vermittelte sie an eine Jobcenter-Mitarbeiterin, die sich um Arbeitssuchende mit psychischen Problemen kümmert. Mittlerweile ist K. im Berliner Modellprojekt Solidarisches Grundeinkommen eingebunden, das Arbeitslose in feste Beschäftigungsverhältnisse vermittelt. »Musste ich dazu erst psychisch krank gemacht werden?«, resümiert K. bitter. Von den Erfahrungen im Jobcenter ist ihr der große Aktenordner mit Korrespondenz geblieben. Am liebsten würde sie die Papiere verbrennen, weil diese sie immer wieder an diese schlimme Zeit erinnern. Am Wochenende waren einige der Schreiben anonymisiert auf einer Tafel im Veranstaltungsraum zu lesen.

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