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Das Gesetz der Ungleichheit
Innerstaatlicher und Völkerrecht dienen heute mehr denn je der Interessendurchsetzung
Recht und Gleichheit sind in der gesamten westlichen Rechtstradition eng miteinander verknüpft, doch das Völkerrecht scheint diese Vorstellung zu widerlegen. Denn Ungleichheit ist ein wesentlicher Bestandteil der Struktur der Vereinten Nationen, und das Vetorecht der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats hebelt das in der UN-Charta fixierte Verbot eines Angriffskriegs praktisch aus.
Bei der Anwendung des humanitären Völkerrechts, das eigentlich für bewaffnete Konflikte gelten soll, sind Doppelstandards die Norm. Und trotz des Prinzips der Gleichheit, das für alle gelten sollte, ist gerade ein Staat gleicher als andere: Israel.
Seit seiner Gründung ist der israelische Staat an ethnischen Säuberungen und der Besetzung von Gebieten beteiligt – im Gegensatz zum Teilungsplan der Uno. Er hat systematisch Dutzende von UN-Resolutionen verletzt, darunter die Resolution vom 18. September 2024, die den Rückzug aus den palästinensischen Gebieten fordert. Israel hat im Westjordanland ein Apartheidregime errichtet, vom Libanon über Syrien bis hin zum Iran wiederholt Aggressionen und extralegale Hinrichtung durchgeführt sowie sich an terroristischen Aktivitäten beteiligt.
Die linke Medienlandschaft in Europa ist nicht groß, aber es gibt sie: ob nun die französische »L’Humanité« oder die schweizerische »Wochenzeitung« (WOZ), ob »Il Manifesto« aus Italien, die luxemburgische »Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek«, die finnische »Kansan Uutiset«, der britische »Morning Star« oder »Naše Pravda« aus Prag. Sie alle beleuchten internationale und nationale Entwicklungen aus einer progressiven Sicht. Mit einer Reihe dieser Medien arbeitet »nd« bereits seit Längerem zusammen – inhaltlich zum Beispiel bei unserem internationalen Jahresrückblick oder der Übernahme von Reportagen und Interviews, technisch bei der Entwicklung unserer Digital-App.
Mit der Kolumne »Die Internationale« gehen wir einen Schritt weiter in dieser Kooperation und veröffentlichen immer freitags in unserer App nd.Digital einen Kommentar aus unseren Partnermedien, der aktuelle Themen unter die Lupe nimmt. Das können Ereignisse aus den jeweiligen Ländern sein wie auch Fragen der »großen Weltpolitik«. Alle Texte unter dasnd.de/international.
Das Versagen des Völkerrechts zeigt sich im Gazastreifen. Nach dem 7. Oktober 2023 berief sich die israelische Regierung auf das Recht auf Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Ob dieses Recht auch bei einem Angriff aus illegal besetztem Gebiet gilt, ist umstritten. Die Prinzipien des humanitären Völkerrechts gelten jedoch unabhängig von der Legitimität von Kriegshandlungen.
Israel hat gegen alle Regeln des humanitären Völkerrechts verstoßen: von eindeutig vorsätzlichen Angriffen auf Zivilisten, insbesondere Kinder, über Hungersnöte bis hin zu gezielten Schüssen auf Zivilisten, die für Mehl anstehen. Der Internationale Strafgerichtshof hat einen Haftbefehl gegen Israels Premierminister erlassen. Doch in der nördlichen Hemisphäre genießt Natanjahu Immunität.
Das Völkerrecht leidet unter einer Reihe von Schwächen: dem Fehlen eines übergeordneten »Dritten«, der Unbestimmtheit seiner Grundsätze und seinen europäischen und diskriminierenden Ursprüngen. Es hat Mühe, mit dem »Fortschritt« der Militärtechnologie Schritt zu halten. Darüber hinaus wird heute argumentiert, die Rückkehr des Wettbewerbs zwischen »Imperien« mache es völlig wirkungslos, oder Krieg sei eine evolutionäre Errungenschaft unserer Spezies, deren »unerzwingbare« Logik Völkermord und Atomwaffen einschließe.
Aber verrät das Völkerrecht nicht auch etwas über das Recht im Allgemeinen? Was wäre, wenn kein Recht Gleichheit garantieren könnte? Nach dem Zweiten Weltkrieg trug das Recht zumindest in Europa dazu bei, Hindernisse für die materielle Gleichheit zu beseitigen.
Die kommunistische Tageszeitung »Il Manifesto« ist bis heute ein wichtiger Bezugspunkt für die italienische Linke. Als eine der ersten Genossenschaft im Medienbereich organisiert, ist die Zeitung unabhängig von Parteien oder Verlegern. Die aktuelle verkaufte Auflage der Tageszeitung liegt heute bei etwa 15 000 Exemplaren.
Il manifesto entstand 1971 als politisches Projekt, begleitete die Arbeitskämpfe des »roten Jahrzehnts« beim Autokonzern Fiat sowie bei anderen Unternehmen und war getragen von der Welle der 68er-Bewegung, die in Italien besonders heftige gesellschaftliche Umbrüche auslöste.
Anlässlich des 80. Jahrestags der Befreiung vom Nazifaschismus rief die Zeitung auch in diesem Jahr wieder zu einer großen Demonstration am 25. April in Mailand auf. Rund 100 000 Menschen kamen zusammen und setzten ein Zeichen gegen die extreme Rechte in Italien und Europa.
Doch seit den späten 1970er Jahren sind die Ungleichheiten wieder aufgetaucht, und es waren Gesetze, Dekrete, Urteile und Verträge, die den rechtlichen Rahmen für Deregulierung und neoliberale Globalisierung absteckten. Auch mit der Wiederherstellung der Souveränität, dem scheinbaren Sieg der Geopolitik über die Wirtschaft und des Protektionismus über den Weltmarkt, scheint sich die Lage nicht zu verbessern. Im Gegenteil, die Ungleichheit macht sich offen und brutal geltend, während das Gesetz weiterhin dazu genutzt wird, diese Prozesse zu erleichtern.
Selbst Verfassungsrecht scheint dazu bestimmt, im »konzeptionellen Papierkorb« zu landen. Aber kann das Gesetz wenigstens »formale« Gleichheit vor dem Gesetz garantieren? Denken wir an das klassischste aller liberalen Rechte: Schutz vor willkürlicher Verhaftung und ein faires Gerichtsverfahren. Es besteht kein Zweifel daran, dass diejenigen, die reich sind und sich gute, teure Anwälte leisten können, gleicher sind als andere. Ganz zu schweigen von Gefängnissen und anderen Bereichen der Extraterritorialität des Rechts, die unsere liberalen Gesellschaften prägen.
Hatte Karl Marx also recht, als er schrieb, alles Recht sei das Gesetz der Ungleichheit? Eine mögliche negative Antwort kann sich nur auf die wirtschaftlichen Prozesse und sozialen Konflikte konzentrieren, die dem Rechtssystem zugrunde liegen und die das Recht mitgestalten kann. Innerhalb von Staaten hat das Recht unter dem Druck des Klassenkampfes die Gleichheit gefördert. Und damit das Völkerrecht nicht auf bloße Ermahnung reduziert wird, muss ein gewisses Gleichgewicht zwischen regionalen Gemeinschaften in einem nicht-destruktiven Wettbewerb wiederhergestellt werden.
Doch auch der Druck von Völkern und Bewegungen ist notwendig. Gleichheit ist ohne Mobilisierung unerreichbar: Die Geschichte der Selbstbestimmungsprozesse der Völker und der Friedensbewegungen ist nicht nur eine Geschichte der Niederlagen.
Dieser Text ist am 16. September in unserem italienischen Partnermedium »Il Manifesto« erschienen. Der Beitrag wurde nachbearbeitet und gekürzt.
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