Auf Umwegen Staatsräson

Linke NS-Erinnerung und repressive Politik. Eine Erwiderung auf Doris Liebscher, Dagmar Lieske und Johannes Spohr

  • Felix Axster / Christoph Gollasch
  • Lesedauer: 9 Min.
Würdiges Gedenken oder staatliche Propaganda? Der israelische Botschafter Ron Prosor im April 2025 in der Gedenkstätte Bergen-Belsen
Würdiges Gedenken oder staatliche Propaganda? Der israelische Botschafter Ron Prosor im April 2025 in der Gedenkstätte Bergen-Belsen

Viele progressive Kräfte tun sich sichtlich schwer mit den widersprüchlichen Dynamiken der Erinnerung, die den nationalstaatlichen Rahmen längst sprengen. Dies zeigt auch der kürzlich im »nd« erschienene Artikel »NS-Gedenkstätten: Von wegen Staatsräson« von Doris Liebscher, Dagmar Lieske und Johannes Spohr. Kritisiert werden hier linke und palästinasolidarische Angriffe auf die Erinnerung, die letztlich, so die Autor*innen, mit rechtsextremen Forderungen nach einem Schlussstrich an einem Strang zögen. Die Erinnerungskultur erscheint dabei allein als emanzipatorische Errungenschaft, die gegen die postnazistische Gesellschaft erkämpft wurde und die es nun gegen eine Querfront von Holocaust-Leugner*innen und Antizionist*innen zu verteidigen gelte. Was dabei mehr oder weniger unter den Tisch fällt, ist die sich seit einigen Jahren abzeichnende repressive Dimension der Erinnerung, die in Einreiseverboten, Abschiebungen, abschlägigen Duldungsentscheiden und Polizeigewalt zum Ausdruck kommt und als Mittel gegen »israelbezogenen«, »importierten« oder »migrantischen Antisemitismus« verstanden wird.

Würdiges Gedenken?

So programmatisch der Artikel »einer politischen Linken« den richtigen Weg vorgeben will, so unpassend sind die Beispiele, von denen sich die Autor*innen abgrenzen. Antisemitische Aufkleber der neonazistischen »Jungen Nationalisten« im Oktober 2023 in der niedersächsischen Gedenkstätte Ahlem und antisemitische Schmierereien auf einem Gedenkstein jüngst in der AfD-Hochburg Sonnenberg werden flankiert mit Artikeln der linken Journalisten Hanno Hauenstein und Yossi Bartal. Das Bild, das die Autor*innen zeichnen, erscheint beinahe extremismustheoretisch: Zwar wird konstatiert, dass die Mehrheit der Angriffe auf das Holocaust-Gedenken weiterhin von Rechten ausgehe. Seit dem 7. Oktober allerdings seien es auch »vermeintlich linke und progressive Akteur*innen, die die Erinnerungsorte implizit oder explizit angreifen«.

Schon lange lässt sich die Erinnerung an die NS-Verbrechen nicht mehr als eine »Geschichte von unten« verstehen.

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Als Belege werden vor allem zwei Vorfälle genannt: Während der diesjährigen Gedenkfeier in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald hatte eine spanische Teilnehmerin eines internationalen Jugendprojekts einen Beitrag mit den Worten »Stop the genocide in Gaza« und »No pasarán« beschlossen. Noch vor Ort hatte der Gedenkstättenleiter Jens-Christian Wagner erwidert, von einem Genozid zu sprechen gehöre sich nicht »an einem Ort wie hier«. In ihrer Darstellung verschweigen Liebscher, Lieske und Spohr, dass Wagner die Worte der Jugendlichen nicht nur subjektiv zurückwies. Vielmehr hatte der Gedenkstättenleiter in ihnen Antisemitismus erkannt. Schließlich laute der Schlachtruf antifaschistischer Widerstandskämpfer*innen im Spanischen Bürgerkrieg übersetzt »sie werden nicht durchkommen«. Wagner zufolge konnte dies »an diesem Ort und an diesem Tag« nur als »die Juden kommen nicht durch« gedeutet werden, es habe sich folglich um einen »antisemitischen Übergriff« gehandelt.

Durch die Verzahnung der nationalsozialistischen Geschichte mit normativen Vorgaben für eine politische Haltung zum Staat Israel konstituierte Wagner geradezu ein Paradebeispiel der sogenannten Staatsräson. Nicht die spanische Jugendliche, sondern er selbst setzte die israelische Armee mit »den Juden« gleich. Dennoch dient der Vorfall den Autor*innen als Gegenbeispiel: »von wegen Staatsräson«. Doch damit nicht genug: Zum Vorfall in Buchenwald gehörte auch die Ausladung des als Hauptredner vorgesehenen deutsch-israelischen Philosophen Omri Boehm auf Druck des israelischen Botschafters Ron Prosor. Kurz darauf sollte Prosor selbst – dies ist der zweite Vorfall – bei der Gedenkfeier zur Befreiung des KZ Bergen-Belsen sprechen, woraufhin der Verein »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost« Protest anmeldete. Die Autor*innen resümieren: Klar könne man Prosors Intervention in Buchenwald kritisieren. Protest in einer Gedenkstätte ausgerechnet am Jahrestag der Befreiung sei aber inakzeptabel. Da die Proteste letztlich ausgeblieben seien, »konnte den Überlebenden und Angehörigen ein würdiges Gedenken ermöglicht werden.« Was außen vor bleibt: Prosor hatte in Bergen-Belsen seine Rede gehalten. Das Fazit der Autor*innen läuft also darauf hinaus, die Teilnahme eines rechten Hardliners an einer Befreiungsfeierlichkeit zu normalisieren, und zwar in Abgrenzung zu linker Kritik an dieser Feierlichkeit.

Erinnerung von oben

Historisch mögen die meisten Erinnerungsorte durch lange Kämpfe von Überlebenden, Aktivist*innen und engagierten Historiker*innen entstanden sein. Doch schon lange lässt sich die Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit nicht mehr als eine »Geschichte von unten« verstehen, auch wenn sie von hochqualifizierten Mitarbeiter*innen in Gedenkstätten unter prekären Bedingungen vermittelt wird (was genauso für Universitäten und andere Arbeitsbereiche gilt). Wie der Historiker Jacob Eder gezeigt hat, begannen die konservativen Eliten bereits in den 1980er Jahren damit, sich die Geschichte des Nationalsozialismus anzueignen. Insofern sind auch Gedenkstätten heute unweigerlich Teil des »nation building« eines geläuterten Deutschlands, das die Erinnerung zur Ressource seiner Innen- und Außenpolitik gemacht hat.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, die Stiftung Topographie des Terrors, die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in einem gemeinsamen Statement vom 6. Juli 2024 in das tagespolitische Geschehen eingriffen und, mit ihrem Standing als erinnerungskulturelle Autoritäten, propalästinensischen Protest im Hinblick auf Israelfeindschaft und Antisemitismus problematisierten. Und wenn die Gedenkstätte Buchenwald in einer hausinternen Handreichung, die zudem an die Justiz in Schleswig-Holstein weitergeleitet wurde, unter anderem die Kufiya, blutrote Hände sowie die Wassermelone als antisemitisch einordnet und damit den Antisemitismusbegriff auf problematische Weise gleichermaßen entgrenzt wie verwässert, dann hat das auch mit der Staatsräson als erinnerungspolitischem Imperativ »von oben« zu tun.

Ähnlich verhält es sich mit dem Status der Holocausterinnerung in der postmigrantischen Gesellschaft: Die Autor*innen argumentieren, dass die Spuren des Nationalsozialismus in Deutschland allgegenwärtig seien und die Aufgabe der Holocaust-Erinnerung bis in die Gegenwart fortbestehe. Womit jedoch nicht allein Deutsche mit nationalsozialistischer Familienbiografie gemeint sind: »Diese spezifisch deutsche Vergangenheit und ihre aktuellen Rekuperationen betreffen alle Menschen, die in Deutschland leben, ob mit oder ohne Migrationsgeschichte, ob mit oder ohne familiären Nazi- oder Naziunterstützerhintergrund.« Obgleich heute mindestens ein Drittel der Bevölkerung in keinem familienbiografischen Zusammenhang zum Nationalsozialismus steht, darf sich die deutsche Gesellschaft nur in der Reflektion auf den Holocaust wandeln.

Linke Normativität wirkt hier erstaunlich ähnlich zu bürgerlichen Forderungen nach Assimilation. Entgegenzuhalten wäre, dass die Parole »Free Palestine from German guilt« – laut den Autor*innen unterschiedslos (»ob nun verbreitet von linken, palästinasolidarischen Studierenden an Universitäten oder auf einer Friedensdemo rechter Verschwörungsideologen am Brandenburger Tor«) Ausdruck eines Begehrens, sich mit der Vergangenheit zu versöhnen – aus palästinensischer Sicht nicht allzu fern erscheint: Denn es sind in erster Linie Palästinenser*innen, die den Preis der Staatsräson, die auch mit deutschen Waffen realisiert wird, zahlen sollen. Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen spüren (post-)migrantische Deutsche: Die sich in erinnerungskulturellen Universalismus hüllenden Forderungen erweisen sich einmal mehr als partikular.

Offenheit statt Diffamierung

Im Rahmen seiner Rede zum 75. Jahrestag der Befreiung Buchenwalds bat der Holocaust-Überlebende Ivan Ivanji die Deutschen, all ihre Empathie denjenigen zu schenken, die heute an Grenzen geschunden werden, in Lagern hungern oder im Meer ertrinken: »Im Rahmen des Gedenkens an den Holocaust wurde immer wieder betont, wie wichtig es sei, Minderheiten zu schützen. Gemeint waren damit meist die Juden. […] Tatsächlich breitet sich der Antisemitismus wieder aus. […] Allerdings möchte ich gerade als Jude betonen, nicht wir sind die einzige Minderheit, die geschützt werden muss. […] Sagen Sie nicht, das sind andere Umstände, andere Lager, diese Leute haben andere Gründe vor Gefahren zu fliehen. […] Suchen Sie keine Beweggründe […] mit den Achseln zu zucken, ihr Leid nicht zur Kenntnis zu nehmen. Das bitte ich auch im Namen der Shoah.«

Nur wenige schaffen es, ihre Lehren aus Vergangenheit derart humanistisch zu formulieren und nicht als Forderung, sondern als Bitte an ihre Umwelt zu richten. Denn auch wenn Geschichte dabei helfen kann, die Gegenwart besser zu verstehen, gibt sie keine Antwort auf die Frage: Wie wollen wir leben? Davon zeugten nicht zuletzt die konträren Aussagen zweier Holocaustüberlebender im Zuge von Merkels »Wir schaffen das« im Jahr 2015. Während Ruth Klüger die Politik der Bundeskanzlerin als »gegensätzliches Vorbild« zu den Untaten des Nationalsozialismus interpretierte, warnte Charlotte Knobloch: »In vielen muslimischen Ländern ist der Hass auf Israel und auf Juden selbstverständlicher, unreflektierter Teil der Erziehung und der Sozialisierung. Antisemitismus wird förmlich mit der Muttermilch aufgesogen.«

Eine progressive Perspektive jedenfalls sollte sowohl rassistischen als auch historischen Essentialisierungen entgegenwirken. Auch sollte sie Kritik möglichst empathisch formulieren. Hierzu gehört anzuerkennen, dass Gedenkstätten und Initiativen insbesondere auf dem Land unter Druck stehen. Selbstverständlich nutzen deutsche Nationalist*innen zum Beispiel aus der AfD die Kritik an Israel, um den Nationalsozialismus zu relativieren. Für sie bedeutet »Free Palestine from German guilt« nicht Omri Boehms Vorstellung eines israelisch-palästinensischen Staates mit universalen Rechten, sondern die Möglichkeit eines positiven Bezugs auf die deutsche Nation. Insofern mag man propalästinensischen Aktivist*innen und linken Hauptstadtjournalist*innen durchaus vorwerfen, nicht hinreichend sensibel für rechte Agitation gerade auf dem Land zu sein. Hauenstein und Bartal jedoch zu unterstellen, einen »Schlussstrich« zu fordern, überschreitet die Grenze zur Diffamierung.

Um noch einmal auf die beiden Vorfälle zurückzukommen: Prosor warf Boehm u. a. vor, einer »Kunst des Vergessens« das Wort zu reden. Tatsächlich ist diese eine wichtige Referenz in Boehms Überlegungen zur erinnerungspolitischen Aussöhnung zwischen jüdischen Israelis und Palästinenser*innen. Allerdings geht es keineswegs einfach um den Appell, den Holocaust zu vergessen. Vielmehr ist die Überwindung einer Erinnerung Programm, die auch und vor allem nationalistischen Interessen dient. »Kunst des Vergessens« meint also – in den Worten von Boehm –, »dass ein Vergessen des Holocaust darauf hinausläuft, sich gemeinsam mit den arabischen Landsleuten zu erinnern.« Und weiter heißt es: »Damit die Geschichte der Nakba (gemeint ist die Vertreibung von Hunderttausenden Palästinenser*innen im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948) in einem binationalen Staat bewältigt werden kann, müsste sie, wie der Holocaust, politisch vergessen werden: das heißt von Palästinensern und Juden gemeinsam erinnert werden.«

Eine ähnliche Stoßrichtung zeichnet sich auch bei Hauenstein und Bartal ab. Beide fordern nicht einfach ein Ende, sondern andere Konsequenzen aus der Erinnerung an den Nationalsozialismus. Zu diesen gehört die Forderung, wegen Auschwitz die israelischen Kriegsverbrechen nicht zu unterstützen, sondern zu verhindern. Man mag der Ansicht sein, dass eine solche »Lehre aus der Vergangenheit« den vielschichtigen Facetten der nationalen Erinnerungskultur der Bundesrepublik nicht gerecht wird. Allerdings sollte man universelle von nationalistischer Kritik unterscheiden. Zudem sollte eine linke Analyse auch und vor allem die im Namen der Erinnerung verübten rassistischen und antisemitischen Ausschlüsse ernst nehmen, anstatt die Forderungen linker Jüd*innen als rechten Schlussstrich zu diffamieren, die Vereinnahmung des Gedenkens durch rechte Akteur*innen in Schutz zu nehmen und so auf Umwegen zur Staatsräson beizutragen.

Würdiges Gedenken oder staatliche Propaganda? Der israelische Botschafter Ron Prosor im April 2025 in der Gedenkstätte Bergen-Belsen
Würdiges Gedenken oder staatliche Propaganda? Der israelische Botschafter Ron Prosor im April 2025 in der Gedenkstätte Bergen-Belsen

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