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Der Eifer des Briefeschreibers
Muss jeder Künstler ein Nahostexperte sein? Einen Einwand gegen offene Briefe von Milo Rau
Das Briefeschreiben ist gehörig aus der Mode geraten, wollte man meinen. Der Theaterregisseur Milo Rau belehrt uns einmal mehr eines Besseren. Sein Anfang des Monats verfasster Brief »An meine Freund*innen« ergreift sehr eindeutig Partei für die Bevölkerung in Gaza und ruft dazu auf, das Schweigen zu dem dort geschehenden Unrecht zu brechen.
Wo Krieg sich breit macht, wo Kriegsverbrechen geschehen, da soll man die Stimme erheben. Dass aber Rau seine abenteuerliche Fantasie ausbreitet, zum israelischen Vorgehen in Gaza würde geschwiegen, erscheint aberwitzig in einer Zeit, in der kein Thema derzeit so umfassend diskutiert wird, auf den Straßen, in den Zeitungen, in der »Tagesschau«. Im Brustton überheblichster Überzeugung reitet er zudem auf dem Begriff Genozid herum.
Mehrere Antwortbriefe, unter anderem von Elfriede Jelinek, machten Rau auf seine verkürzte Sicht aufmerksam, die dazu inmitten neuer Friedensverhandlungen und kurz vor dem Jahrestag des Hamas-Massakers zur Unzeit kundgetan wurde.
Und Milo Rau, der seine Rolle als Intellektueller offenbar zugunsten eines marktschreierischen Aktivismus aufgeben möchte? Der verfasst abermals einen Brief, dieses Mal »Komplexität aushalten« überschrieben, in dem er die Argumente seiner Kritiker scheinbar ernst nimmt, um sich dann doch nur selbst auf die Schulter zu klopfen als großer Nahostversteher.
Dass die Rechtspopulisten von der FPÖ nun Raus Absetzung als Intendant der Wiener Festwochen fordern, ist natürlich grundfalsch und Ausdruck eines widerlichen autoritären Geistes. Aber weniger Hybris täte vielen, auch Rau, gut, wenn die Gewalt global regiert. »Die Bühne ist kein Ort moralischer Eindeutigkeit, sondern ein Ort der Widersprüchlichkeit«, ließ er in seinem ersten Brief wissen. Dass er die Mittel des Theaters beherrscht, hat Rau oft genug unter Beweis gestellt. Warum er sich als öffentliche Figur dümmer machen will denn als Künstler (und als er eigentlich ist), bleibt ein Rätsel.
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