Verfassungsschutz: Horch und Guck, ganz demokratisch

Der Inlandsgeheimdienst späht noch immer vor allem linke vermeintliche Feinde der freiheitlichen Grundordnung aus

Die Differenz zwischen deklariertem Auftrag und Realität des politischen Agierens des Verfassungsschutzes wurde auch in der Jubiläumsrede von Innenminister Dobrindt deutlich.
Die Differenz zwischen deklariertem Auftrag und Realität des politischen Agierens des Verfassungsschutzes wurde auch in der Jubiläumsrede von Innenminister Dobrindt deutlich.

Zur Jubiläumsveranstaltung am Montag im Bundesinnenministerium pries dessen Chef Alexander Dobrindt (CSU) das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) als »Garant unserer Freiheit und der Schutzschild unserer Demokratie«. Der Inlandsgeheimdienst stehe »seit 75 Jahren dafür, dass aus der Geschichte unseres Landes die richtigen Lehren gezogen werden: Jede Demokratie braucht Demokratieschützer.«

Darüber, wie sehr die Behörde, die direkt dem Bundesinnenministerium unterstellt ist, »die Demokratie« schützt, gehen die Meinungen indes auseinander. Rechtswissenschaftler weisen seit Jahrzehnten darauf hin, dass sie vor allem immer wieder als Instrument zur Einschüchterung linker und progressiver Gruppen und Personen ge- und missbraucht wurde und wird. Antikommunismus gehöre zu ihrer DNA, schrieb der Jurist und Journalist Ronen Steinke in seinem 2023 veröffentlichten Buch »Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht«. »Der Feind stand immer links«, konstatierte er.

Das kam einerseits daher, dass vor und nach der offiziellen Gründung zahlreiche alte Nazis für das Amt arbeiteten, etliche waren direkt für Verfolgung und Ermordung von Juden und Widerständlern verantwortlich. Andererseits hatten unter den Westalliierten insbesondere die USA großes Interesse an Informationen über die 1945 nach zwölf Jahren Verbot und Verfolgung wiedergegründete KPD und ihre Akteure. Dafür hatten sie bereits 1949 in Köln, wo sich noch heute der Hauptsitz des BfV befindet, eine Tarneinrichtung namens Amt für Verfassungsschutz geschaffen.

Der offizielle Auftrag des BfV, das am 7. November 1950 seine Arbeit aufnahm, war die »Sicherung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung« der im Jahr zuvor gegründeten Bundesrepublik. Die Besatzungsmächte USA, Frankreich und Großbritannien sorgten zudem dafür, dass im Verfassungsschutzgesetz das sogenannte Trennungsgebot festgehalten wurde. Dem Inlandsnachrichtendienst wurden keine polizeilichen Befugnisse eingeräumt, um sicherzustellen, dass keine neue politische Polizei wie die Gestapo in der NS-Zeit entstehen konnte.

Zwar besteht die Trennung bis heute fort. Doch es gibt einen engen Informationsaustausch zwischen Nachrichtendiensten und Polizeien, einerseits über das 2004 gegründete Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum und andererseits über das 2012 geschaffene Gemeinsame Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum. Letzteres wurde auf Betreiben des damaligen Bundesinnenministers Hans-Peter Friedrich (CSU) als Konsequenz aus dem »Versagen« der Behörden bei der Aufklärung der Morde des rechtsterroristischen NSU eingerichtet.

Kritiker glauben indes nicht an Fahrlässigkeit und Versagen der Behörden, sondern an aktive Einflussnahme auf Rechtsterroristen. Dafür spricht auch, dass bis zum Jahr 2016 ingesamt fünf potenzielle Zeugen im NSU-Komplex plötzlich verstarben. Und kurz nach der Selbstenttarnung des NSU am 4. November 2011 wurden im BfV Unmengen von Akten vernichtet. Als die »Schredder-Affäre« bekannt geworden war, bat der damalige BfV-Präsident Heinz Fromm im Juli 2012 um Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand.

Aktuell gibt es auch aus der Zivilgesellschaft durchaus Anerkennung für das BfV, weil es die AfD Anfang Mai vom Verdachtsfall zur »gesichert rechtsextremistischen Bestrebung« hochgestuft hatte. Mehrere Bundesländer wollen AfD-Mitglieder und Rechtsextreme aus dem öffentlichen Dienst fernhalten – in Kooperation mit dem Inlandsgeheimdienst.

Vor den Plänen etwa in Hamburg und Rheinland-Pfalz, für Bewerber im öffentlichen Dienst wieder die sogenannte Regelanfrage beim Verfassungsschutz wieder einzuführen, warnen indes die Verbände der Betroffenen der Berufsverbote der 70er und 80er Jahre. Die trafen damals fast ausschließlich Linke. Und bis heute bestimmt der Verfassungsschutz auch auf Länderebene, wer als »extremistisch« zu gelten hat. Auf entsprechenden Listen stehen neben Neonazigruppierungen und AfD auch viele linke Organisationen wie die Linksjugend Solid und die Gefangenenhilfsorganisation Rote Hilfe. Mehreren Linken wurde in den letzten Jahren in Bayern, aber auch in Hessen die Einstellung an Unis oder ein Referendariat verweigert.

Pikant: In Hamburg ist es eine rot-grüne Koalition, die eine flächendeckende Überprüfung von Bewerbern durch den Verfassungsschutz plant. Dabei haben die Grünen wie Die Linke lange eine Auflösung des Inlandsgeheimdienstes gefordert. Deniz Celik, innenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke in der Hamburgischen Bürgerschaft, erklärte dazu vergangene Woche: »Statt im Kampf gegen die Feinde der Demokratie von rechts die Zivilgesellschaft und deren antifaschistisches Engagement zu stärken und Demokratiebildung auszubauen, setzen SPD und Grüne auf Misstrauen, Kontrolle und Gesinnungsschnüffelei.« Die Linke schlägt statt der Regelanfrage eine Einzelfallprüfung bei konkreten Anhaltspunkten für rechtsextreme Aktivitäten von Bewerbern vor.

Das BfV überprüft derweil auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGO) und Einzelpersonen im Auftrag der Bundesregierung, wenn diese öffentliche Fördermittel beantragt haben. Wie das Bundesinnenministerium am 13. Oktober auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion antwortete, betraf die Überprüfung in den vergangenen vier Jahren 1250 NGO und 1296 Einzelpersonen.

Das Bundeskanzleramt, Ministerien und Bundesbehörden wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) können nach dem »Haber-Verfahren« Anfragen an das BfV richten und erfragen, ob »verfassungsschutzrelevante Erkenntnisse« über Fördergelder beantragende Personen oder Organisationen vorliegen. Einen konkreten Verdacht braucht es dafür nicht, die Betroffenen werden auch nicht über die Überprüfung informiert. In 210 Fällen meldete das BfV entsprechende Erkenntnisse. Das Verfahren scheint immer häufiger zum Einsatz zu kommen. Aus den Antworten der Bundesregierung auf frühere Linke-Anfragen ging hervor, dass zwischen 2004 und 2018 rund 50 Antragssteller aus dem Förderprogramm »Demokratie Leben« überprüft wurden. In den Jahren 2018 und 2019 wurden insgesamt rund 330 Verfassungsschutzüberprüfungen durchgeführt.

Die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Clara Bünger, konstatierte angesichts dessen: »Das Bundesinnenministerium und der sogenannte Verfassungsschutz haben gegenüber der Zivilgesellschaft in den letzten Jahren eine Verdachtskultur und ein Regime der geheimdienstlichen Ausspähung etabliert.«

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