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Evangelische Kirche: Gewaltverzicht mit Ausnahmen
Die Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland ist selbst innerhalb der Kirche schwer umstritten
Für die Vorstellung ihrer Friedensdenkschrift in Berlin hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) keinen Geringeren als Außenminister Johann Wadephul (CDU) aufgeboten. Er lobte das Grundsatzpapier der Kirche und hob hervor, was ihm besonders daran gefällt. So etwa, dass die Kirche angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine eine »Neubewertung« vornehme, die auch »Positionen korrigiert«. Genauer gesagt, dass der Schutz vor Gewalt »die Grundlage« für Freiheit, Gerechtigkeit und Pluralität sei. Ferner, dass Gegengewalt durch einen angegriffenen Staat ethisch legitimiert sei und dass der Pazifismus des kategorischen Gewaltverzichts als universale Ethik nicht zu halten sei. Fehle nur, bedauerte Wadephul, dass die evangelische Kirche diese Positionen nicht explizit auf den Abwehrkampf der Ukraine und ihrer Unterstützer angewandt habe, wo es dort doch klar um legitime rechtserhaltende Gewalt gehe.
Denkschriften sind grundsätzliche Äußerungen der EKD, quasi die höchste Form einer kirchenoffiziellen Verlautbarung. Sie stehen in einem Kosmos früherer Veröffentlichungen der Kirche, weswegen immer bedeutsam ist, woran die Denkschriften anknüpfen und wovon sie sich abgrenzen. Wadephul hat recht: Wegen des gescheiterten Afghanistan-Einsatzes und des Überfalls Russlands auf die Ukraine hat der Rat der EKD, das Leitungsgremium des Verbundes von 20 Landeskirchen, im September 2022 beschlossen, die vorherige Friedensdenkschrift aus dem Jahr 2007 »weiterzuentwickeln«, so die Vorsitzende des Rates der EKD, Bischöfin Kirsten Fehrs. Dieses »Weiterentwickeln« des auf Harmonie bedachten Kirchenjargons enthält beides: Anknüpfung und Korrektur.
Dieser Schutz vor Gewalt wird – trotz des Bekenntnisses zum Gewaltverzicht – vor allem als militärischer verstanden.
Die Friedensdenkschrift von 2007 hat als friedensethisches Leitbild den »gerechten Frieden« entworfen: Der sei gekennzeichnet durch vier Dimensionen: Schutz vor Gewalt, Förderung der Freiheit, Abbau von Not und die Anerkennung kultureller Verschiedenheit. Außerdem sprach sich die Denkschrift damals für einen Vorrang gewaltfreier Mittel aus, um diesen Frieden zu suchen. Nur als Ultima Ratio, als letztes Mittel, könne militärische Gewalt in Betracht gezogen werden. Damals hat man vor allem an sogenannte humanitäre Interventionen gedacht. Dem Vorrang der Gewaltfreiheit fühlt sich die neue Denkschrift mit dem Titel »Welt in Unordnung« weiter verpflichtet, wenn es heißt: »Evangelische Friedensethik setzt auf den Primat des Gewaltverzichts. Aufgrund dieses Primats genießen zivile Mechanismen der gewaltfreien Konfliktbearbeitung, der Friedensbildung und der Versöhnung sowie gewaltfreie präventive, bewahrende und nachbereitende Maßnahmen ethisch stets den Vorrang vor der Anwendung von Gewalt.« Klingt verlockend eindeutig, ist es aber nicht.
Denn bei den vier Dimensionen des gerechten Friedens nimmt die Denkschrift eine Neubewertung vor: Standen damals diese vier Dimensionen des Friedens als sich gegenseitig bedingend nebeneinander, so heißt es in der neuen Denkschrift, dass der Schutz vor Gewalt das »grundlegende Gut« sei, ja die »unabdingbare Voraussetzung für umfassende Friedensprozesse« und damit für die Realisierung der anderen drei Dimensionen des Friedens. Und dieser Schutz wird – trotz des Bekenntnisses zum Gewaltverzicht – vor allem als militärischer verstanden.
Entsetzen bei Friedensgruppen
Irgendwie traut das Redaktionsteam der Denkschrift um den Münchner Theologieprofessor Rainer Anselm den Mitteln ziviler Konfliktbearbeitung nicht wirklich etwas zu. »Es wird in unserer erlösungsbedürftigen Wirklichkeit immer Akteure geben, die Friedensordnungen und lebensförderliche Strukturen aus unterschiedlichen Motiven bewusst untergraben oder zerstören – und das selbst im Fall der besten Prävention und des entschiedensten Einsatzes von zivilen Konfliktbearbeitungsmitteln«, heißt es resigniert in der Denkschrift.
Damit entsorgt die evangelische Kirche all ihre jahrzehntelangen Bemühungen, zivilen Konfliktbearbeitungsstrategien mehr Aufmerksamkeit und Ressourcen zu verschaffen. Entsprechend entsetzt ist man auf Seiten der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF), in der kirchliche Friedensgruppen zusammengeschlossen sind. In einer Stellungnahme der AGDF heißt es, dass die Erfahrungen der Fachorganisationen für Friedensforschung und zivile Konfliktbearbeitung nicht in die Denkschrift eingeflossen seien. Stattdessen werde militärisches Handeln friedensethisch rehabilitiert, so die AGDF. In der Tat: Zu Themen wie vertrauensbildenden Maßnahmen, Diplomatie oder Rüstungskontrolle werden keine konkreten Vorschläge in der Denkschrift gemacht.
Aus letztem Mittel wird Mittel der Wahl
Und wenn es »immer Akteure geben« wird, »die Friedensordnungen bewusst untergraben oder zerstören«, vor denen man sich militärisch schützen muss, dann wird aus Gewalt als letztem Mittel schließlich doch das Mittel der Wahl. Begründet wird dies mit der Vorstellung, die auf den Reformator Martin Luther zurückgeht, dass der Mensch als Sünder zum Bösen fähig sei und eine Regierung dieses Böse eben mit »dem Schwert«, wie Luther es nannte, also mit Waffengewalt, niederhalten müsse. Unreflektiert bleibt die problematische Wirkungsgeschichte dieser Sicht: Sie brachte einerseits eine fatale Nähe der evangelischen Kirche zu verschiedenen Staatsformen in Deutschland hervor. Zum anderen legt diese Sicht die menschlichen Möglichkeiten und deren Grenzen anscheinend zeitlos fest, statt danach zu fragen, welche Strukturen den Menschen helfen würden, ihre positiven Potenziale zu entfalten und welche Strukturen die zweifellos vorhandenen negativen Möglichkeiten fördern.
Im zwischenstaatlichen Bereich bedeutet diese Sicht auf die Menschen, dass Aufrüstung – also der Schutz mit Gewaltmitteln – alternativlos ist. »Sachlich ist festzustellen, dass eine ausreichende Ausstattung der Bundeswehr für einen Verteidigungsfall derzeit nicht gegeben ist«, heißt es mit einigem Verständnis für den Begriff der »Kriegstauglichkeit«. »Es geht dann um das Problem, wie Soldatinnen und Soldaten befähigt werden können, eine militärische Auseinandersetzung erfolgreich zu bestehen.« Eine Verschiebung zu früheren Zeiten, als Aufrüstung das Ziel hatte, den potenziellen Gegner abzuschrecken. Die fantastischen Summen, die dafür in den nächsten Jahren zur Verfügung gestellt werden sollen, werden nur insofern kritisiert, als dass andere notwendige Ausgaben darunter nicht leiden sollen: Der Schlüssel für eine zukunftsfähige und sichere Lebensweise liege »in einer ausgewogenen Kombination aus einem Mehr an Verteidigung, Sozialem und Klimaschutz«.
»Wir sollten bei einem Nein ohne jedes Ja bleiben.«
Bischof Friedrich Kramer Friedensbeauftragter des Rates der EKD
Heikel wird es beim Punkt der atomaren Bewaffnung. In der Denkschrift von 2007 hatte es noch geheißen, dass aufgrund ihres unermesslichen Zerstörungspotenzials die politische Drohung mit Nuklearwaffen ethisch »heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung« betrachtet werden könne. Die neue Denkschrift scheint diese Linie aufzunehmen, wenn es heißt: »Hinter die Ächtung von Atomwaffen, wozu auch die Androhung eines nuklearen Schlags gehört, gibt es kein ethisches Zurück.« Dann aber wird das, was ethisch eigentlich geboten ist, »politisch« ausgehebelt: »Der Besitz von Nuklearwaffen kann sicherheitspolitisch notwendig sein, auch wenn ihr Einsatz durch nichts zu rechtfertigen ist.« In der Konsequenz heißt das, dass die »ethisch richtige Option«, einseitig auf Atomwaffen zu verzichten, im Blick auf die Folgen »kaum politisch zu vertreten« sei. Deswegen könne es dann schließlich doch »eine ethisch begründbare Entscheidung sein«, sich für den Besitz von Atomwaffen oder die nukleare Teilhabe einzusetzen. Schuld lade man mit dieser oder der gegenteiligen Haltung auf sich.
Der Friedensbeauftragte des Rates der EKD, Friedrich Kramer, Bischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, hatte die Aufgabe, die Denkschrift vor der Synode der EKD vorzustellen, die Anfang November in Dresden tagte. Er tat dies mit deutlicher Kritik an der Denkschrift. »Wir sollten bei einem Nein ohne jedes Ja bleiben«, sagte Kramer und spielte damit auf den Satz an, der in den 80er Jahren auf den lila Schals der kirchlichen Friedensbewegung stand: »Für ein Nein ohne jedes Ja zu Massenvernichtungswaffen.« Dafür gab es Applaus von den Delegierten aus den 20 Landeskirchen.
Kein Vorrang mehr für Zivildienst
Bemerkenswert in der Denkschrift ist zuletzt auch: Während Soldaten als diejenigen gewürdigt werden, die »unter dem Einsatz des eigenen Lebens« andere schützen, werden diejenigen, die den Dienst mit der Waffe verweigern, nun kirchenamtlich gefragt, ob sie wohl damit rechneten, »dass ein solcher Dienst mit der Waffe zur Landesverteidigung von anderen übernommen werden sollte«. Drückeberger hat man diese Menschen früher verunglimpft. Keineswegs könne man sagen, dass der Zivildienst gegenüber dem Militärdienst das »deutlichere Zeichen« des christlichen Einsatzes für den Frieden sei, wie es die Kirchen der DDR einmal pointiert formuliert haben. Die Entscheidung, sich nicht zum Töten ausbilden zu lassen, wird unverkennbar zu einer persönlichen Gewissensentscheidung herabgestuft, die keinerlei politische Relevanz beanspruchen kann: »Als universale politische Ethik lässt sich der Pazifismus des kategorischen Gewaltverzichts ethisch nicht legitimieren.« Auch da hat Wadephul die Denkschrift richtig verstanden.
Den Synodalen in Dresden behagte das nicht: Sie beschlossen einen Antrag, in dem die »abgewogene Würdigung der Friedensdenkschrift« durch den Friedensbeauftragten Friedrich Kramer gelobt wurde. Dazu kam die Forderung, die Debatte über die Denkschrift fortzusetzen »und dabei Meinungsvielfalt zu fördern«. Weniger diplomatisch formuliert: Die Denkschrift solle bitte nicht als das einzige Wort der Protestanten zum Thema stehen bleiben. So kann man hoffen, dass die klare Position der Denkschrift vielleicht doch die Kräfte innerhalb der evangelischen Landeskirchen befeuert, die mit ihr nicht einverstanden sind.
Christoph Fleischmann ist Redakteur der kirchenunabhängigen christlichen Zeitschrift Publik-Forum. www.publik-forum.de
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