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NSU-Morde: Kein Schlussstrich – kein Vergessen
Zwei Töchter von NSU-Opfern wollen mit einem Buch Jugendliche gegen rechte Ideologie sensibilisieren
Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgut, Michèle Kiesewetter. Es sind die Namen der Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), die der Sozialwissenschaftler Ali Şirin am Freitagabend im Salon des FMP1 in Berlin noch einmal in Erinnerung ruft. Die Veranstaltung hatte die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kooperation mit dem Bildungswerk Helle Panke organisiert. Şirin setzt sich als Mitglied der Initiative »Kein Schlussstrich Dortmund« dafür ein, dass die Opfer der Nazi-Terrorgruppe nicht vergessen und ihre Angehörigen nicht alleingelassen werden.
Am Freitagabend moderierte Şirin die Buchvorstellung von Gamze Kubaşık und Semiya Şimşek, zwei Frauen, deren Väter Opfer der Nazibande wurden. Gamze Kubaşık und Semiya Şimşek waren zwanzig und vierzehn Jahre alt, als ihre Väter ermordet wurden. »Unser Schmerz ist unsere Kraft« lautet der Titel des Buches.
Neben Semiya Şimşek saß auch die Journalistin Christine Werner auf dem Podium. Ihrer Initiative ist es zu verdanken, dass das Buch entstanden ist. Die Idee zum Buch kam aus ihrer persönlichen Erfahrung. Es machte ihr Sorgen, dass ihr 14-jähriger Sohn nichts über den NSU wusste. Das jetzt entstandene Buch richtet sich deshalb auch explizit an junge Menschen über 14 Jahre. Sie sollen durch die sehr persönlich gehaltenen Berichte von zwei Frauen, die in jungen Jahren ihre Väter verloren, dafür sensibilisiert werden, welche tödlichen Konsequenzen Rassismus, Ausgrenzung und rechte Hetze haben können. »Die jungen Menschen sollen ins Nachdenken kommen und ihre persönlichen Schlüsse ziehen«, sagt Semiya Şimşek.
»Aber unsere Väter waren keine Döner. Es waren Menschen mit ihren Träumen und Plänen, die durch die Morde aus den Leben gerissen wurden.«
Semiya Şimşek
»Manche gehen auf Demos, andere engagieren sich in einer Initiative gegen Ausgrenzung oder stoßen in ihrer eigenen Umgebung auf Ausgrenzung und setzen sich dagegen ein.« Das Buch ist allerdings für alle Altersgruppen eine notwendige und schmerzliche Lektüre. Denn hier erinnern die beiden noch einmal daran, wie sie und ihre Familien über viele Jahre von der Polizei und auch großen Teilen der Medien beschuldigt worden waren, selbst für die Morde an ihren Vätern verantwortlich zu sein. Sie mussten stundenlange Polizeiverhöre über sich ergehen lassen, in denen sie aufgefordert wurden, zu erzählen, dass die Ermordeten in kriminelle Machenschaften verstrickt gewesen sein sollen.
Semiya Şimşek berichtete sehr eindringlich, wie die Polizei aus den häufigen Fahrten ihres Vaters nach Holland schlussfolgerte, dass er angeblich Drogen schmuggle. Dabei hatte der Blumenhändler seine Pflanzen lediglich von holländischen Großmärkten bezogen. Bei anderen NSU-Opfern konstruierte die Polizei politische Hintergründe oder Konflikte in den Familien.
»Der NSU hat unsere Väter ermordet, Polizei und Medien haben das Ansehen von ihnen und unseren Familien zerstört«, bringt Semiya Şimşek ihre Erfahrungen auf den Punkt. Ihr Vater war das erste Opfer des NSU und wurde im September 2000 in Nürnberg ermordet. Beide Frauen erinnern in dem Buch daran, dass einige Angehörige im Jahr 2006, nachdem acht weitere Menschen mit der gleichen Waffe erschossen worden waren, in Kassel und Dortmund zu Demonstrationen unter dem Motto »Stoppt das Morden – Kein 10. Opfer« aufgerufen hatten.
Es waren damals fast nur Menschen mit migrantischem Hintergrund anwesend, die überzeugt waren, dass Neonazis hinter der Mordserie stecken mussten. Selbst aktive Antifagruppen konnten sich zu dieser Zeit nicht vorstellen, dass eine Neonazigruppe mordend durch die Republik zog. Erst nach der Selbstenttarnung des NSU änderte sich das politische Klima. »Nur wenige Tage später standen Journalist*innen aus der ganzen Republik vor unserer Tür und wollten mit uns reden«, erinnerte sich Şimşek. Ihre Erinnerungen daran sind zwiespältig. »Für meine Mutter war es eine große Erleichterung, dass jetzt bewiesen war, dass Nazis die Täter waren. Aber ich dachte mir: Warum dürfen wir erst jetzt Opfer sein? Warum habt ihr uns die ganzen Jahre vorher wie Täter behandelt?« Auch für den unsäglichen Begriff der »Döner-Morde«, unter dem die Verbrechensserie von vielen Leitmedien gelabelt wurde, hat sich bis heute niemand bei den Opfern entschuldigt. »Aber unsere Väter waren keine Döner. Es waren Menschen mit ihren Träumen und Plänen, die durch die Morde aus dem Leben gerissen wurden«, sagt Şimşek.
Semiya Şimşek berichtet in dem Buch, wie sie 2006 bei der Demonstration in Dortmund Gamze Kubaşık ansprach, weil sie in deren Gesicht den gleichen Schmerz entdeckte, den sie selber fühlte, als sechs Jahre zuvor ihr Vater ermordet wurde. Seitdem setzen sie sich gemeinsam dafür ein, dass unter den NSU-Komplex kein Schlussstrich gezogen wird. Das Buch ist ihr aktuelles Projekt.
Ihr Engagement gegen das Vergessen motiviert auch andere Initiativen. So stellten am Freitagabend auch zwei Aktivist*innen der Initiative »Berlin erinnert München OEZ« ihre Pläne vor. Am 22. Juli 2016 erschoss vor dem Olympia-Einkaufszentrum in München ein Neonazi neun Menschen und verletzte weitere schwer. Alle Opfer hatten migrantischen Hintergrund. Der Täter suchte sie gezielt aus. Motiviert wurde er zu den Morden von dem norwegischen Neonazi Anders Breivik, der seine Mordserie in Norwegen genau 15 Jahre zuvor startete. Die Initiative will Bildungsmaterialien über diese faschistischen Morde entwickeln. Unterstützt werden sie dabei von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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Die Morde am OEZ hatte zunächst kaum jemand politisch als rechte Tat eingeordnet. Auch die Medien sprachen lange von einem Amoklauf. Erst nach dem rechten Terroranschlag auf eine Synagoge und einen Imbiss in Halle änderte sich die Einschätzung. Mittlerweile gelten die OEZ-Morde als eine der rechten Aktionen mit den meisten Opfern. Während des Anschlags fand in München der NSU-Prozess statt, der von Antifaschist*innen und auch von engagierten Journalist*innen begleitet wurde.
In der anschließenden Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass nicht nur staatliche Institutionen und Medien, sondern auch antifaschistische Gruppen manchmal Schwierigkeiten haben, rechte Gewalt sofort zu erkennen. Aber es wurde bei der Veranstaltung auch deutlich, dass die Opfer rechter Gewalt heute bei ihrem Kampf gegen jeden Schlussstrich Unterstützung aus der Zivilgesellschaft bekommen.
Gamze Kubaşık, Semiya Şimşek, Christine Werner: »Unser Schmerz ist unsere Kraft. Neonazis haben unsere Väter ermordet«, Fischer Sauerländer Verlag, 192 S., geb., 17,90 €.
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