Sex im Land des Lächelns

Bumsbomber aus Europa landen. Doch der Schein der roten Laternen trügt

  • Michael Lenz
  • Lesedauer: 5 Min.

Thailand ist mit vielen Etiketten versehen. Das südostasiatische Königreich gilt wegen der Freundlichkeit seiner Menschen als das »Land des Lächelns«. Nach allgemeiner Auffassung ist Thailand auch ein liberales Land, insbesondere in Fragen der Sexualität. Thailand trägt daher eben auch das Etikett »ultimative Sextourismusdestination«. Die grellbunte Neonwerbung der Bars in Bangkoks Rotlichtvierteln Patpong und Soi Cowboy oder im Badeort Pattaya, jenem Urknall des Sextourismus in Thailand, sind der deutlich sichtbare Beweis für die lockere Sexmoral der Thais.

Der Schein der roten Laternen trügt jedoch. Dahinter verbirgt sich eine in Sexualfragen konservative Gesellschaft. In Chiang Mai hat im März eine kleine Gruppe antischwuler Bürger unter Gewaltandrohung eine Gay-Pride-Parade verhindert. Eine bekannte thailändische Schauspielerin musste öffentlich Abbitte leisten dafür, dass sie zu einer Galaveranstaltung in einem sehr freizügigen Kleid erschienen war. Als sich im vergangenen Jahr in einer der kitschig-schrillen Seifenopern des Thaifernsehens einige Stewardessen eine handfeste Prügelei lieferten, weil jede den schmucken Piloten für sich haben wollte, war die Welle der öffentlichen Empörung groß. Thai- frauen werfen sich nicht an Männer heran, hieß es. Das sei mit den Sitten und Traditionen Siams unvereinbar.

Die Politologin Chalidaporn Songsamphan von der Thammasat Universität in Bangkok ist immer wieder entsetzt, wenn restriktive Sichtweisen von Sexualität und der Rolle von Frauen mit »Traditionen des alten Siam« begründet werden. Die Professorin hat nämlich nachgewiesen, dass das alte Siam keineswegs puritanisch war. Die gesellschaftliche Einstellung habe sich erst Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts verändert, als der Adel und die gesellschaftliche Elite begonnen hätten, viktorianische westliche Moralvorstellungen zu importieren. »In den alten Tagen empfanden die Siamesen Sex nicht als etwas Schmutziges, sondern als eine ganz natürliche Sache in einer säkularen Welt«, sagt Chalidaporn und kann auf eine Menge Belege für ihre These verweisen. Das fängt bei der Sprache an. In den thailändischen Dialekten gebe es viele Wörter, die sexuelle Dinge in einer freundlichen und lockeren Weise benennen. Es gebe auch aus früheren Jahrhunderten Schriften, die über Sexualität aufklären und Sextechniken beschreiben. Eine deutliche Sprache sprächen auch die vielen erotischen Bilder in den Wandgemälden alter buddhistischer Tempel.

Die engagierte Frauenrechtlerin räumt auch mit der im heutigen Thailand verbreiteten Ansicht und Praxis auf, dass es »schon immer« arrangierte Ehen gegeben habe. »Das galt nur für die Oberklasse. Frauen wurden mit Männern verheiratet, um politische oder wirtschaftliche Bündnisse zu besiegeln. Im Rest der Gesellschaft konnten Frauen ihre Lebenspartner frei wählen.« Auch Sex vor der Ehe war nicht verpönt. »Wir haben keinen Grund zu glauben, dass die Jungfräulichkeit eine Bedeutung besaß. Die Männer in Siam zogen nach der Hochzeit in die Häuser ihrer Ehefrauen. Das war anders als im Westen, wo Blutlinien und das Erbe über die männliche Linie weitergegeben werden.«

Aus diesen Gründen hätten Frauen keinen geringeren gesellschaftlichen Stellenwert genossen als Männer. Wie auch schwule Männer, lesbische Frauen und Kathoeys, wie in Thailand Transsexuelle genannt werden, nicht ausgegrenzt worden seien. »Es wurde darüber geklatscht, man hat sich über Schwule und Lesben ein wenig lustig gemacht, aber sie wurden nicht stigmatisiert«, sagt Chalidaporn. Aber die Wissenschaftlerin warnt auch vor der falschen Annahme, das alte Siam sei ein Sodom und Gomorrha gewesen. »Es gab feste Regeln«, betont sie. Im Wertesystem der Siamesen waren, wie in anderen Gesellschaften auch, klassenübergreifend Vergewaltigung und Inzest die großen Tabus. Auch sei es nicht üblich gewesen, sich leichtfertig auf vorehelichen Sex einzulassen. Hart waren allerdings die Regeln für die Damen der herrschenden Klassen. Ehefrauen oder gar Töchter von mächtigen Männern, bei sexuellen Verfehlungen und Seitensprüngen erwischt, wurden dadurch bestraft, dass sie als Prostituierte arbeiten mussten.

Der vielleicht bedeutendste Faktor im unbekümmerten Umgang im alten Siam aber war das Fehlen einer Religion, die Sexualität nur als notwendiges Übel zur Fortpflanzung sieht und den Spaßfaktor als Sünde geißelt. »Der siamesische Glauben basiert auf Buddhismus und Hinduismus. In diesen beiden Religionen wird Sex als etwas Positives gesehen«, sagt Chalidaporn.

Die alten Traditionen kamen mit der Ankunft der Europäer und des Kolonialismus ins Wanken und kippten letztlich ganz. Zwar war Thailand als einziges Land Südostasiens nie formal kolonialisiert, aber der westliche Einfluss groß. Der australische Wissenschaftler Peter Jackson glaubt: »Um dem Kolonialismus zu entkommen, hat der thailändische Staat auf dem Konzept der westlichen Zivilisation die thailändische Kultur und Zivilisation umgemodelt.« Wesentlichen Anteil an dieser Neuerfindung der Thaikultur hatte Ministerpräsident Pibulsongkram in den 1930er Jahren. In seiner Regierungszeit wurde das westliche Eheideal »Bis dass der Tod uns scheidet« per Gesetz eingeführt; Staatsbediensteten waren Seitensprünge verboten; in der Literatur durfte Ehebruch nicht mehr erwähnt werden; Thais mussten westliche Kleidung tragen. Auch der thailändische Buddhismus blieb von dem westlich-christlich geprägten Puritanismus nicht verschont. Seit Beginn der Verwestlichung seien in den Wandmalereien neuer Tempel keine erotischen Szenen mehr dargestellt worden.

»Diese Werte werden heute noch von der Oberklasse und der immer größer werdenden Mittelklasse hochgehalten«, sagt Chalidaporn. Zumindest offiziell. Chalidaporn: »Das sind alles Scheinheilige. Sie leben privat nicht, was sie offiziell vertreten.«

Am Anfang von Thailands Ruf als Sextouristendestination standen zwei Buchstaben: R & R, Rest & Recreation, etwa »Entspannung & Erholung«. In das Fischerdörfchen Pattaya am Golf von Siam schickten die USA während des Vietnamkriegs ihre GIs zum Fronturlaub. Bei Sex, Bier und Rock'n'Roll konnten die Soldaten Krieg und Tod für ein paar Tage vergessen. Zudem waren in der Nähe Pattayas und im Nordosten Thailands US-Truppen für den Einsatz in Vietnam stationiert. Nach Ende des Vietnamkriegs 1975 hatte Thailand seine Lektion gelernt: Westliche Männer stehen auf asiatische Schönheiten. Statt der B 52 der amerikanischen Luftwaffe begannen nun die Bumsbomber aus Europa zu landen. Dem Profit durch den Sextourismus und die bis heute illegale Prostitution hätten auch die offiziell prüden thailändischen Regierungen seit den 1960er Jahren nicht widerstehen können. Für viele thailändische Frauen sei die Prostitution ein schneller Weg aus der Armut, so die Professorin und Präsidentin der Sexworkerorganisation »SWING«. »Man kann das als eine Mischung aus dem Einfluss des Kapitalismus und unterschiedlichen Einstellungen zur Sexualität sehen.«

Erotische Wandmalereien im alten Tempel Wat Suwannaram in Bangkok. In neuen thailändischen Tempeln findet man solche Szenen nicht mehr.
Erotische Wandmalereien im alten Tempel Wat Suwannaram in Bangkok. In neuen thailändischen Tempeln findet man solche Szenen nicht mehr.
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