Keine rote Karte für die »Rote Fahne«

Hallenser Nahverkehrsbetrieb scheitert mit Kündigung eines kritischen Betriebsrats

  • Hendrik Lasch, Halle
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein Unternehmen darf einen Betriebsrat nicht fristlos hinauswerfen, weil der dem Arbeitgeber »verschärfte Ausbeutung« attestiert und politisch Farbe bekennt. Das entschied das Arbeitsgericht Sachsen-Anhalt im Fall eines Hallenser Straßenbahnfahrers.

Wilfried Birkowsky fährt regelmäßig Straßenbahn. Dabei ist dem Vorsitzenden Richter der 5. Kammer am Landesarbeitsgericht von Sachsen-Anhalt aufgefallen, dass Hallenser Straßenbahnfahrer gern lesen: »Oft liegt in der Fahrerkabine irgendein Publikationsorgan.« Meist handle es sich um die BILD-Zeitung, fügt der Richter hinzu: »Die scheint besonders beliebt.«

Im Fall, den Birkowsky gestern zu verhandeln hatte, ging es um ein anderes Blatt: die »Rote Fahne«, Wochenzeitung der MLPD. Sie klemmte aufrecht zwischen Rucksack und Scheibe, als Frank Oettler am 24. Februar 2007 seine Bahn durch Halle lenkte. Eine Provokation habe er damit nicht beabsichtigt, sagt der Straßenbahnfahrer. Sein Arbeitgeber sieht das anders. »So stellt man eine Zeitung hin, wenn man in demonstrativer Weise eine politische Aussage treffen will«, sagt Andreas Schlömer, Anwalt des Hallenser Nahverkehrsbetriebs HAVAG, der dem Fahrer unter anderem wegen dieses Vorfalls kündigte: »Genauso«, sagt Schlömer, »hätten wir bei einem rechtsradikalen Blatt gehandelt.«

Die politische Lektüre allein hätte Oettler und den HAVAG-Anwalt gestern vielleicht nicht im Landesarbeitsgericht aufeinander treffen lassen. Allerdings fällt der Bahnfahrer nicht nur durch gebräuntes Gesicht und lange Haare auf, sondern vor allem dadurch, dass er bei vermeintlichen Missständen im Betrieb nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg hält. »Betriebsinteresse heißt für mich: die Interessen der Kollegen«, sagt Oettler, der seit 18 Jahren bei der HAVAG arbeitet und im Jahr 2002 in den Betriebsrat gewählt wurde. Als nicht im Interesse der Mitarbeiter empfand er ein Arbeitszeitmodell, das Ende 2007 in Kraft getreten war und unter anderem die Pausenzeiten neu regelte. In einem Interview mit der Lokalzeitung, das vor dem Hintergrund des damals eskalierten Lokführerstreiks und von Tarifverhandlungen für den Nahverkehr geführt wurde, sprach Oettler davon, dass HAVAG-Mitarbeiter einer »verschärften Ausbeutung« ausgesetzt seien.

Seit dieser unmissverständlichen Äußerung fliegen die Fetzen zwischen dem Unternehmen und dem Betriebsrat. In der fristlosen Kündigung, die Oettler am 8. März 2008 ausgesprochen wurde, wird eine »Schmähkritik und Beleidigung des Arbeitgebers« beklagt, die »nicht vom Recht der freien Meinungsäußerung« gedeckt sei. Penibel werden weitere Vorfälle aufgeführt, die Anstoß erregten; so soll Oettler in Dienstuniform an einer Demonstration gegen Hartz IV teilgenommen und vor einem Pausenraum firmenkritische Flugblätter verteilt haben. Nach Meinung Oettlers geht es freilich nicht um eine abgelegte Zeitung oder das einem Kollegen in die Hand gedrückte Flugblatt, sondern darum, einen aufmüpfigen Mitarbeiter zu disziplinieren: »Das war eine politische Kündigung«, sagt er. Der Ansicht ist auch Walter Michael Wengorz vom Erwerbslosenausschuss von ver.di, der einen »Solikreis Kollegenhilfe« gegründet hat, um unter anderem diesen Fall zu begleiten.

Das Unternehmen weist ein solche Vermutung freilich weit von sich: Es sei mitnichten darum gegangen, einen »missliebigen Gewerkschafter loszuwerden«, sagt Schlömer und verweist auf die konkreten Vorwürfe. Derentwegen sei es zu einer »völligen Zerrüttung« der Beziehung gekommen, so der Anwalt, der eine »rote Karte« für angebracht und die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für »unzumutbar« hält.

Freilich: Die HAVAG muss weiter mit ihrem kritischen Betriebsrat leben. Das Landesarbeitsgericht kippte gestern ein Urteil der vorherigen Instanz vom Juli 2008, wonach zwar die Kündigung unwirksam sei, aber der Bahnfahrer nicht mehr weiterbeschäftigt werden müsse. In Revision darf die HAVAG nicht gehen. Nach dem gestern gefällten Urteil muss Oettler zumindest so lange wieder »zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen« eingesetzt werden, bis zwei weitere Streitfälle beigelegt sind. Die HAVAG hatte dabei zwei weitere Kündigungen gegen Oettler ausgesprochen. Sie habe das zum einen mit einer im Unternehmen in großer Auflage kursierenden MLPD-Betriebszeitung begründet, zum anderen mit einer im Internet aufgetauchten, ihm zugeschriebenen Äußerung, so Oettler, der bestreitet, mit beidem etwas zu tun zu haben. In diesen beiden Fällen hatten die übrigen Kollegen im Betriebsrat ihre Zustimmung zur Kündigung verweigert, wogegen die HAVAG vorgeht. Oettler, der von einem »anständigen Teilerfolg« spricht, darf nun wieder Straßenbahnen steuern – und in den Pausen auch Zeitungen lesen.

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