Blutspende oder Aderlass

Prominente Köpfe aus den sozialen Bewegungen kandidieren am Sonntag für die Linkspartei

Außerparlamentarische Aktivisten wechseln mit jeder Wahl ins parlamentarische Geschäft. Wann der Austausch zum Problem wird, ist allgemein schwer zu beantworten. Ein Problemaufriss.
Zwei Seiten – und doch gut verzahnt
Zwei Seiten – und doch gut verzahnt

Vor Wahlen gibt es immer einen kleinen Wettstreit zwischen (linken) Parteien wer welche prominente Persönlichkeit auf seine Liste bekommt. Am Sonntag kandidieren eine Reihe von Leuten für den Bundestag, die bislang in Bürgerinitiativen, Kirchen oder sozialen Bewegungen, also vor allem außerhalb von Parteien und Parlamenten Politik gemacht haben. Manche haben sich das selbst überlegt, andere wurden gezielt angesprochen.

Es macht schon etwas her, wenn wie bei der Europawahl der Steuerexperte von Attac, Sven Giegold, oder mit Barbara Lochbiehler die langjährige Chefin von Amnesty International für die Grünen antreten. Genauso wie es der LINKEN Punkte bringen wird, dass gestandene Gewerkschafter zu ihrer Wahl aufrufen oder nun – wie zum Ausgleich – die bisherige Attac-Geschäftsführerin Sabine Leidig für die Sozialisten in den Bundestag einziehen will. Und das sind nur zwei exemplarische Beispiele bei einer einzigen Wahl.

An diesem personellen Austausch haben nicht nur die Parteien ein Interesse. Auch die außerparlamentarischen Bewegungen selbst bemühen sich, »ihre Kandidaten« auf die Parteilisten zu hieven. »Für die Friedensbewegung ist es von großer Bedeutung, unseren Widerstand mit fachkundigen und engagierten KandidatInnen der LINKEN im Bundestag gemeinsam fortzusetzen und zu verbreitern«, hieß es in einem Aufruf, der begründete, warum in Nordrhein-Westfalen die langjährige Friedensaktivistin Kathrin Vogler aufgestellt werden sollte.

»Unsere Kandidatin in den Bundestag!« – da schwingt mit: Es muss nur die richtige Person im Parlament sitzen. Der zugrunde liegende Gedanke: Gut, wenn eine engagierte Streiterin an eine einflussreiche Stelle kommt, man hat dann einen kurzen Draht in den Bundestag und muss nicht von außen aufwändig Lobbyarbeit machen.

In der außerparlamentarischen Linken sind dennoch durchaus nicht alle glücklich über die derzeit vor allem von der Linkspartei ausgehende Sogwirkung. Nicht, weil sie sie schlecht finden, sondern vor allem wegen der möglichen Kosten für beide Seiten. Dabei wird nicht bestritten: Das Wechselspiel politisch-parlamentarischer Kräfte und außerparlamentarischer sozialer Bewegungen, die Verzahnung beider Sphären ist elementar, um gesellschaftliche Veränderungen durchzusetzen.

Aber weil Parteien und Bewegungen unterschiedliche Logiken und Aufgaben haben, ist mit solchen Kandidaturen auch tendenziell ein Seitenwechsel verbunden. Wie die außerparlamentarischen Kräfte einen Ansprechpartner im Parlament gewinnen, verlieren sie zugleich einiges: personelle Ressourcen, Fachkompetenz, eigene Aushängeschilder. Und die Kandidaten sind nur die sichtbare Spitze, auf der Ebene der Mitarbeiter wird der Effekt noch deutlicher. Die Partei ist in der günstigeren Position, weil sie »Bewegungsarbeitern« mit überwiegend prekären Projektstellen gut bezahlte Vollzeitjobs anbieten kann.

Zudem schwächen soziale Bewegungen ihre gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten, werden sie zu stark mit einer Partei identifiziert. Um das zu vermeiden, verzichtet nicht nur die Friedensbewegung darauf, Wahlempfehlungen abzugeben. Die Anti-Atombewegung hat erfahren, dass eine zu starke Verschmelzung die außerparlamentarische Widerstandskraft und Kritikfähigkeit schwächen kann. So war der Automausstiegsbeschluss unter Rot-Grün ohne Zweifel ein Erfolg dieser Bewegung, die in dem damaligen grünen Bundesumweltminister Jürgen Trittin einen Verbündeten auf höchster Ebene hatte. Die langen Restlaufzeiten waren dann eher der Tribut ans parlamentarische System. Die verhaltene Kritik daran aber Ergebnis von zu viel »das-ist-doch-unsere-Regierung« in den Köpfen, von Rücksichtnahme auf die »eigene« Partei.

Anders herum ist eine linke Partei angewiesen auf ein starkes Umfeld, dass sie, wenn schon nicht immunisiert, dann doch abhärtet gegen den Integrationssog des parlamentarischen Systems. Auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse ist sie daher gut beraten, gerade die linken Bewegungen zu hegen und zu pflegen, die unbeeindruckt von potenziellen Wählerstimmen, Koalitionsoptionen und Umsetzungswahrscheinlichkeiten denken, kritisieren und handeln. Überdies lassen sich eigene Reformvorhaben auch viel besser durchsetzen, wenn es auf der Straße die entsprechende Unterstützung gibt.

Wie man das Verhältnis austariert, darüber wird in der Linken seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Die Diskussion führt dabei immer wieder zu einer ähnlichen Formel, die in etwa lautet: Eine Partei muss in Bewegungen verankert sein, kann und sollte sie aber nicht ersetzen. Nur was das in der Praxis heißt, ist deutlich unklarer.

Bei der Kandidatenfrage lässt sich wohl kaum eine objektive Zahl ermitteln, ab wann die Blutspende zum Aderlass wird. Dass es sich dabei in jedem konkreten Fall um eine individuelle Entscheidung handelt, macht die Angelegenheit für beide Seiten auch nicht einfacher.

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