Die BSG Chemie als Feindbild

In Leipzig erreicht die Brutalität unter Fußballfans ein ungekanntes Maß

  • Ronny Blaschke
  • Lesedauer: 3 Min.

In den Gedanken von Matthias Fuchs laufen die Bilder wieder und wieder ab. Bilder von einem Freund, der von einem Auto mit etwa vierzig Stundenkilometern frontal angefahren wird, seitlich über die Motorhaube fliegt, die Frontscheibe zerstört und auf den Asphalt aufschlägt. Er hört wieder und wieder die Schreie des Freundes, das Wimmern und die Sorge, er könne seine rechte Körperseite und seinen Rücken nicht mehr spüren. Fuchs, der seinen wahren Namen nicht nennen möchte, spricht mit zittriger Stimme: »Das war versuchter Totschlag, das war Wahnsinn.« Er hatte dem Auto ausweichen können, er war rechtzeitig zur Seite gesprungen.

Was Fuchs beschreibt, sind die Nachwehen eines Fußballspiels in der Leipziger Kreisklasse. Am vergangenen Sonntag kam es nach dem Spiel der BSG Chemie gegen den SSV Kulkwitz zu einem Zusammenstoß zwischen rivalisierenden Fans und politischen Gegnern, dessen Brutalität ein ungekanntes Maß erreicht hat.

Fuchs ist Mitglied der linksalternativen Gruppe »Diablos«, die die BSG Chemie unterstützt. Er spricht von 15 bis 20 Neonazis, darunter Fans des Fünftligisten Lokomotive Leipzig, die sich nach dem Spiel an einer Tankstelle am Stadion formiert hätten. Fuchs spricht von Angriffen mit Pfefferspray, Holzknüppeln, abgebrochenen Glasflaschen, Eisenstangen und dem fahrenden Auto als Waffe. Der Angefahrene musste operiert werden, beide Kniescheiben sind gebrochen, eine Schulter ausgekugelt.

Montag verschickte die Gruppe um Fuchs eine Mitteilung, in der neben Mitgliedern der »Autonomen Nationalisten« und »Freien Kräfte« auch Enrico Böhm als Beteiligter genannt wird. Böhm, 27, ist Mitarbeiter der sächsischen Landtagsfraktion der NPD und kandidierte Ende Juni für die Leipziger Stadtratswahl. Auf Anfrage wies Böhm die Vorwürfe zurück: Er und 15 »Nationale Aktivisten« seien auf dem Weg zu einer Demonstration nach Berlin gewesen, als sie von 50 bis 60 zum Teil vermummten und mit Totschlägern bewaffneten Chemie-Fans angegriffen worden seien. »Wir waren umzingelt«, sagt Böhm. »Das war Notwehr.«

Die Polizei war während der Eskalation nicht vor Ort, ob die Überwachungskameras der Tankstelle am Tatort bei den Ermittlungen helfen, ist unklar. Anzeige wolle Fuchs nicht erstatten, er befürchtet Gegenaktionen der Neonazis gegenüber jugendlichen Fans der BSG Chemie, die zur Schule gehen und noch bei ihren Eltern leben.

Einer seiner Mitstreiter, der die Pressemitteilung am Montag verfasst hat, wirft Polizei und Politik in Leipzig große Versäumnisse vor. »Die Gewalt unter Fans ist nur zu zwanzig Prozent mit Fußball in Verbindung zu bringen«, sagt er. »Achtzig Prozent basieren auf Politik. Die BSG Chemie dient den Neonazis als Feindbild, da sie sich gegen Rassismus einsetzt.« Ihre Fans waren oft Opfer rechtsextremer Gewalt geworden. Am 3. Januar dieses Jahres war ein Fan von Chemie nach einem Überfall am Sportforum mit Verdacht auf Schädelbasisbruch ins Krankenhaus eingeliefert worden.

In keiner anderen Stadt Deutschlands ist der Fußball politisch so aufgeladen wie in Leipzig. Das verdeutlicht Enrico Böhm, der ein Hausverbot beim 1. FC Lokomotive hat, aber den Verein für die Rekrutierung von NPD-Mitgliedern instrumentalisiert. Mit Wahlkampfmobilen der NPD warb er vor dem Stadion Loks. Bei der Stadtratswahl kam er im Wahlkreis 9 auf 1466 Stimmen – 3,7 Prozent für einen rechtsextremen Fußballfan. Seine Verstrickungen in Gewalt scheinen seiner Beliebtheit wenig anzuhaben.

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