Bildung mit dem Zentralorgan

Die Pädagogik hat allen Grund, sich mit dem Gehirn des Menschen zu beschäftigen

  • Walter Schmidt
  • Lesedauer: 6 Min.

Inwiefern können Lehrer und andere Pädagogen von Hirnforschern lernen? Reden beide Gruppen wirklich über dasselbe? Oder bestätigt die Neurobiologie nur, was einfühlsame Erzieher schon immer wussten.

Der Versuch, einer Waschmaschine das Würstchen-Grillen beizubringen, scheitert in aller Regel. Ihre Speicherchips enthalten einfach kein dafür taugliches Programm – von der ebenfalls wenig hilfreichen Waschtrommel einmal abgesehen. Schwerer wiegt die Frage, in welchem Maße eine Früherzieherin die ihr anvertrauten Kinder fördern kann – vor allem, indem sie durch ihr Verhalten als gutes Vorbild wirkt und durch Lernspiele und andere Anregungen die Hirne der Kleinen vor reizvolle, aber lösbare Aufgaben stellt. Die gleiche Frage muss sich ein Lehrer stellen, der erst Jahre später mit den Kindern arbeiten kann.

Doch ist es dann nicht viel zu spät? Sind die Schüler-Hirne dann nicht bereits so stark vorgeprägt und Nervenverschaltungen so fest fixiert, dass die Würfel längst gefallen sind, ob das einzelne Kind wissbegierig, lernbereit und also ausreichend motiviert ist, Anregungen als Herausforderungen wahrzunehmen? Lässt sich das Ruder bei sogenannten faulen oder gar verhaltensauffälligen Kindern noch herumreißen? Können Pädagogen von einem freien Willen bei ihren Schülern ausgehen und mit Begriffen wie Schuld und Verantwortlichkeit hantieren, wenn doch das Hirn oft schon über das Verhalten entscheidet, bevor dieses dem Individuum bewusst wird?

Gehirn bis ins

hohe Alter formbar

Otto Speck, bis zu seinem Ruhestand Professor für Sonderpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat sich diesen Fragen in seinem kürzlich erschienenen Buch über »Hirnforschung und Erziehung« ausführlich gewidmet und ermuntert seine Fachkollegen dazu, sich intensiv mit Hirnforschung zu beschäftigen. »Die Pädagogik hat allen Grund, sich für das Zentralorgan des Menschen, für sein Gehirn, zu interessieren, laufen doch hier die Prozesse ab, die allem Lernen physiologisch zugrunde liegen«, befindet der Münchner Heilpädagoge.

Tröstlich für engagierte Erzieher dürfte sein, dass laut Speck ihr Beitrag zum Reifen eines Menschen durch die Entdeckungen der Hirnforschung nicht kleiner werde. Zwar könnten Erzieher nur noch begrenzt gegen das bei Drei- oder gar Sechsjährigen schon weithin vorgeformte Hirn anerziehen und allenfalls noch einen Teil der angesammelten Entwicklungsmängel beseitigen. Doch seien sie andererseits auch keine Maschinisten, die kleine Denkapparate bloß noch gut ölen müssten.

Für die Motivation und den Anspruch von Erziehern hält Speck es für keineswegs gleichgültig, ob sie es »mit einem seiner selbst bewussten Kind oder Jugendlichen« zu tun hätten oder »mit determinierenden chemo-physikalischen Prozessen in seinem Gehirn« – einem nach festen Vorgaben ablaufenden »Zusammenspiel von Nervenzellen und Molekülen«. Ziel von Pädagogen müsse es bleiben, Kinder zu verantwortlichen Menschen mit moralischem Empfinden heranzubilden – unabhängig davon, ob jemand vollumfänglich für schuldig an seinem Tun befunden werden könne.

Zudem sei eine Reihe wichtiger Fragen noch offen. So ist Speck zufolge bis heute nicht verstanden, wie und warum aus »physikalisch-chemischen Prozessen die Inhalte des Bewusstseins entstehen. »Der Streit um das Verhältnis von neuronalen und mentalen Prozessen erscheint – jedenfalls gegenwärtig – nicht lösbar«, urteilt der Buchautor. Weder ließen sich beide Phänomene sauber unterscheiden noch könne man sie gleichsetzen oder gegeneinander austauschen.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Hirnforschung aus jüngerer Zeit dürfte sein, dass Gehirne in den ersten Lebensjahren zwar entscheidend geprägt werden, aber bis ins hohe Alter – wenn auch in Grenzen – formbar bleiben. »Zum Zeitpunkt der Geburt sind nahezu alle Nervenzellen angelegt, aber noch nicht überall im Gehirn miteinander verbunden«, schreibt Speck. Ein großer Teil der angelegten Nervenzellen gehe jedoch »unwiederbringlich verloren, wenn diese nicht in Anspruch genommen werden«. Nur etwa ein Drittel der angelegten Nervenverbindungen bleibe erhalten. Damit werde die »große Bedeutung der frühen Entwicklungsanreize deutlich«.

Diese Sichtweise hat sich allgemein durchgesetzt. »Ein Kind ist kein Aktenordner, in den man Blatt für Blatt Wissensinhalte einheften kann, sondern ein Lebewesen, dessen Erleben und Verhalten neurobiologischen Grundregeln unterworfen ist«, sagt etwa der Freiburger Psychiater und Neurowissenschaftler Professor Joachim Bauer. Zu den »fatalen Irrtümern unserer Zeit« gehöre die Ansicht, »das Verhalten von Menschen sei im Wesentlichen bereits durch seine Gene determiniert, weshalb äußere Faktoren nur wenig ausrichten können«. Doch Menschen seien nun mal »keine durch Gene programmierten Selbstläufer, die mit Hilfe eines Autopiloten durchs Leben fahren«. Umwelteinflüsse, also auch Bezugspersonen, wirken erheblich daran mit, welche Gene aktiviert werden. Das Gehirn verwandele »seelische Eindrücke in biologische Signale, es macht – salopp ausgedrückt – aus Psychologie also Biologie«.

Gute Pädagogik tut also sehr wohl not, doch sie sollte stets die Möglichkeiten des jeweiligen Kindes statt seine Schwächen im Auge haben. »Jedes Kind ist einzigartig und verfügt über einzigartige Potenziale zur Ausbildung eines komplexen, vielfach vernetzten und zeitlebens lernfähigen Gehirns«, urteilt der Neurobiologe Professor Gerald Hüther. Was dem Göttinger Hirnforscher aber eines der größten Anliegen ist: »Wichtiger als alles Wissen über das Gehirn eines Dreijährigen ist es, dass man das Kind mag, und zwar so, wie es ist.« Sonst könne man es nämlich nicht »einladen, ermutigen und inspirieren, sich als kleiner Weltentdecker auf den Weg zu machen«. Und genau das gelt »auch für jeden Lehrer, der Pubertierende unterrichtet«.

Lernen mit

allen Sinnen

Mindestens ebenso selbstbewusst als Pädagoge wie Otto Speck zeigt sich der Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin. »Die Hirnforschung kommt nicht auf neue pädagogische Ideen, so wenig, wie ein Internist, der die Magensäfte und Verdauungsenzyme kennt, neue Speisen erfinden kann«, sagt der Bonner Universitäts-Professor. Was Hirnforscher herausgefunden haben, sei tüchtigen Erziehern schon lange bekannt.

Ein solcher Fall ist die nicht mehr ganz junge Erkenntnis, dass reale, buchstäblich mit Hand und Fuß und allen Sinnen gemachte Erfahrungen wertvoller sind als mediale, etwa vorm Fernseher oder Computer-Bildschirm gesammelte: »Bei Kindern, die vornehmlich virtuell, also über Bilder und sonstige Medien die Wirklichkeit kennen lernen, die sich nicht selber, das heißt auch physisch, mit anderen auseinandersetzen, die sich nicht selber in das Ungewisse ihrer Umwelt hineinwagen und nicht unmittelbar die Folgen ihres Tuns mit allen echten Konsequenzen erleben«, werde das Erfahrene nicht klar oder nur unzureichend im Hirn strukturiert und verankert, befindet Otto Speck – und leitet daraus die Hoffnung ab, »dass die relativ harten wissenschaftlichen Fakten ein Stück dazu beitragen könnten, dass mehr Bewegung in die pädagogische Szene kommt«, und zwar trotz der »Schwerbeweglichkeit« der öffentlichen und staatlichen Erziehungs- und Bildungsszene in Deutschland.

Otto Speck: »Hirnforschung und Erziehung. Eine pädagogische Auseinandersetzung mit neurobiologischen Erkenntnissen«, Ernst-Reinhardt-Verlag 2009, 198 Seiten, 19,90 Euro.

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