»Wir stehen weiter unter Besatzung«

ND-Gespräch mit dem Menschenrechtler Jaber Wishah

  • Lesedauer: 3 Min.
Jaber Wishah wurde im Bureij- Flüchtlingslager im Gaza-Streifen geboren. Er kämpfte politisch und militärisch gegen die israelische Besatzung und war von 1985 bis 1999 in israelischer Haft. Mit dem Vizepräsidenten des Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte in Gaza (www.pchrgaza.org) sprach Karin Leukefeld.

ND: Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an den Rückzug der israelischen Truppen und Siedler aus dem Gaza-Streifen denken?
Wishah: Ich möchte ganz deutlich sagen, dass wir nicht von einem »Rückzug« sprechen. Was damals geschah, war nur eine Verlegung der israelischen Besatzungstruppen, die Realität heute bestätigt das. Die Palästinenser befinden sich weiter unter juristischer, politischer und physischer Besatzung Israels.

Hofften Sie damals auf positive Veränderungen?
Wir hatten alle keine großen Erwartungen. Es gab ja diesen israelischen Plan der einseitigen Loslösung, und wir waren nicht überrascht, als sie es dann machten. Aber es gibt keine Freiheit für die Palästinenser, keinen Staat, kein zusammenhängendes Verwaltungsgebiet. Israel ist weiter Besatzungsmacht, mit der wir tagtäglich konfrontiert sind. Bis heute werden wir kontrolliert, zu Land und zur See, wir sind von der Welt abgeschlossen. Unser Flughafen hier in Gaza wurde komplett zerstört. Und es wird noch schlimmer werden.

Das hört sich sehr pessimistisch an.
Es geschieht nichts, überhaupt nichts, was uns Anlass zum Optimismus gäbe. Weder geschieht etwas Positives auf lokaler noch seitens der Staatengemeinschaft auf internationaler Ebene.

Die EU und dabei besonders auch Deutschland geben viel Geld an die palästinensische Autonomiebehörde. Erreicht Sie diese Hilfe überhaupt?
Wir sind für jede internationale Hilfe, für Schenkungen und Unterstützung sehr dankbar. Aber solange dieses ganze Geld nicht in Entwicklungsprojekte gesteckt und die Ebene der ›Hilfe‹ überwunden wird, solange wird der gewünschte Erfolg ausbleiben. Natürlich wird Unterstützung gebraucht, aber gleichzeitig muss etwas für die Fähigkeiten der Palästinenser getan werden, sich selber zu versorgen und eine eigene, unabhängige Wirtschaft zu entwickeln. Die Internationale Gemeinschaft sollte sich für Gerechtigkeit einsetzen, damit die Besatzung endlich ein Ende hat. Erst dann können wir etwas optimistischer sein.

Was ist in diesen Tagen Ihre größte Sorge in Gaza?
Ganz allgemein ist es dieser Zustand der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Unsicherheit, die jeden Winkel des menschlichen Alltags betrifft. Unsicherheit ist gefährlicher als jede Gefahr, sie ist der Boden, auf dem Extremismus gedeiht. Konkret ist unsere größte Sorge der Streit zwischen Fatah und Hamas, damit muss Schluss sein. Sie müssen eine Regierung der nationalen Einheit bilden und den Gaza-Streifen mit dem Westjordanland und Ostjerusalem vereinigen. Nur als geeintes palästinensisches Volk können wir unsere Freiheit und Unabhängigkeit fordern. Nur so können wir die Zukunft nicht nur für unsere Kinder sicher gestalten, sondern auch für die Kinder unserer israelischen Nachbarn. Das ist unser Traum, und wir haben das Recht auf diesen Traum.

Können direkte Gespräche zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde und Israel diesen Traum realisieren?
Ich habe 5262 Tage in israelischen Gefängnissen verbracht, 14 Jahre, 3 Monate und 10 Tage. Das war viel Zeit, um Israelis kennenzulernen. Und meine Erfahrungen sagen, dass sie die Krise nur steuern wollen, nicht lösen. Sie werden verhandeln und verhandeln und gleichzeitig zwingen sie uns Fakten auf. Die Mauer, die Siedlungen, die Judaisierung Jerusalems – sie besetzen die Berge, Gebiete in der Westbank und im Jordantal und machen damit die Bildung eines palästinensischen Staates zu einer »mission impossible«, unmöglich. Bis heute ist es weder der israelischen Regierung noch der Bevölkerung ernst mit dem Frieden. Und die palästinensische Führung ist schwach. Die Verhandlungen dauern nun schon Jahrzehnte – und so wird es weiter gehen, bis eine dramatische Wandlung in der Region das alles in den Hintergrund drängt.

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