Hungern für die Miete

Berliner Kampagne gegen Zwangsumzüge warnt vor Nebenwirkungen der Hartz-IV-Reform

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 3 Min.
Während der Vermittlungsausschuss noch über die minimale Regelsatzerhöhung von fünf Euro streitet, geraten die anderen Punkte der Hartz-IV-Reform völlig aus dem Blick. Die Berliner Kampagne gegen Zwangsumzüge lud am Donnerstag zu ihrer Neujahrspressekonferenz, um auf weitere Fallstricke der Reform hinzuweisen.

Derzeit streiten Bundesregierung und Opposition über die richtige Berechnung der Regelsätze für Hartz-IV-Bezieher. Dabei enthält das Reformpaket aus dem Bundesarbeitsministerium weitere böse Überraschungen für die Betroffenen, wie Eva Willig von der Kampagne gegen Zwangsumzüge am Donnerstag in Berlin betonte. »Die Reform verschärft auch die Sanktionen und diskriminiert zudem Behinderte.« So sollen Behinderte 73 Euro weniger im Monat erhalten, wenn sie mit anderen Erwachsenen zusammenleben, so Willig. Die Betroffenen bekämen dann nur noch 80 Prozent des normalen Regelsatzes. Somit gäbe es dann für erwachsene Behinderte genauso viel bzw. wenig wie für Jugendliche ab dem 14. Lebensjahr.

Nicht minder fragwürdig ist die ebenfalls vorgesehene Pauschalierung der Kosten für Unterkunft und Heizung. So kritisierte Eva Willig, dass sich in den neuen Satzungsermächtigungen für die Kommunen die Anweisung finde, Hartz-IV-Betroffenen nur noch die »unteren Standards auf dem örtlichen Wohnungsmarkt« zu bewilligen. Das sei ein Paradigmenwechsel: Musste die Wohnungsmiete bisher »angemessen« sein, soll sie künftig möglichst niedrig sein. So werden wahrscheinlich tausende Berliner aus ihrem angestammten Wohnumfeld gerissen und in die Wohnsiedlungen am Rande Berlins ausgelagert. »Banlieues wie in Paris haben wir hier noch nicht, aber wir sind auf dem Weg«, warnte die Stadtsoziologin Karin Baumert.

Schon jetzt ist die Lage für viele Berliner prekär: Die Jobcenter bezahlen die Miete nur bis zu einer bestimmten, ortsüblichen Grenze. Liegt die Miete darüber, dann müssen die Betroffenen meistens umziehen oder die Differenz aus eigener Tasche bezahlen. Befragungen im Ostteil Berlins hätten ergeben, so Baumert, dass einige Betroffene sogar hungern, um nicht umziehen zu müssen. »Viele genieren sich und schämen sich für ihre Armut«, beobachtete Baumert.

Um die geplante Pauschalierung der Unterkunfts- und Heizkosten wenigstens auf eine halbwegs vernünftige Grundlage zu stellen, müsste der Mietspiegel jährlich neu überprüft werden, forderte Baumert. Bislang wird der Spiegel nur im Zweijahres-Rhythmus erstellt. »Zudem muss auch eine Leerstandsquote ermittelt werde«, sagte Baumert.

Der Wohnungsmarkt in der Hauptstadt hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Bei Neuvermietungen seien Preissteigerungen von 20 bis 50 Prozent keine Seltenheit mehr, erläuterte Eva Willig.

Grundsätzlich zeigten sich die Jobcenter in den seltensten Fällen flexibel. So berichtete Willig über den Fall einer Berlinerin, die ihre kranke Mutter in der gemeinsamen Wohnung pflegte und bereits eine Woche nach deren Tod die Aufforderung zum Umzug erhielt. »Oftmals fehlt es den überlasteten Sachbearbeitern in den Jobcentern an Fingerspitzengefühl«, erklärte Willig, die hauptberuflich als Sozialarbeiterin tätig ist.

Auch aus diesem Grund betreibe die Initiative gegen Zwangsumzüge seit Jahren ein kostenloses Notruftelefon, so Willig. »Alle Berliner, die vom Jobcenter die Aufforderung zur Senkung der Kosten bekommen und nicht weiter wissen, können sich unter 0800 272727 beraten lassen«, empfahl Willig. Wahrscheinlich wird es in Zukunft häufiger klingeln.

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