»Was bist du eigentlich, Max?«

Max Frisch: Eine Biografie der frühen Jahre und ein opulenter Bild-Band

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Wahrheit kann man nicht beschreiben, nur erfinden. MAX FRISCH
Die Wahrheit kann man nicht beschreiben, nur erfinden. MAX FRISCH

Der Durchbruch gelang 1954. Im Herbst erschien der Roman »Stiller«, das Buch, für das im Sommer 1952 die ersten Skizzen entstanden waren. Seine Ehe steckte in der Krise, er hatte eine verheiratete Freundin, zwischendurch war er, um Ruhe zu finden und sorglos arbeiten zu können, an den Genfer See geflohen. Jetzt saß er in Zürich und wartete auf das Echo. Peter Suhrkamp, der Verleger, formulierte seine Zustimmung in einem Essay, der junge Siegfried Unseld schrieb Lobendes für ein Literaturblatt, und Dürrenmatt schwärmte am Telefon. Das erfreute und beruhigte zwar, beantwortete aber nicht die Frage, was die Kritik sagen würde. Dann die Erlösung: Die Kritik urteilte einhellig. Manche sprachen sogar von einem Meisterwerk. Bald darauf erschien der Roman in zahlreichen fremdpsrachigen Ausgaben.

In diesem entscheidenden Jahr 1954, da die Geschichte des Weltautors Max Frisch beginnt, endet Julian Schütts »Biographie eines Aufstiegs«, das erste Buch, das sich den frühen Jahrzehnten des Schriftstellers widmet, der Kindheit, der Jugend, den Schreibanfängen, dem Architekturstudium, der langen Suche nach der eigenen Bestimmung. Frisch, äußerst diskret, den Biografen mit ihrer Schnüffelei und dem Hang zur Festlegung nie gewogen, gab Privates nur spärlich und streng dosiert preis. Allein in den publizierten Tagebüchern und in »Montauk« ist er als Person überhaupt sichtbar geworden. Was heute im Züricher Archiv liegt, ist jener Teil seiner schriftlichen Hinterlassenschaft, den er gelten ließ.

Alles andere hat er noch selber ausgesondert, sperren oder einfach verschwinden lassen. »Ich lasse überhaupt sehr vieles aus«, hat er im Sommer 1981 seinem Interviewer Volker Hage bekannt. Und noch ergänzt: »Über meine Kindheit habe ich fast nichts geschrieben. Ich weiß auch nicht sehr viel darüber.« Die Sätze, im Anhang einer überraschend opulenten Bildbiografie Volker Hages abgedruckt, lassen ahnen, welche Mühen heute nötig sind, der Person des Schriftstellers nahe zu kommen, wenn man sich nicht mit dem zufrieden geben will, was ohnehin schon bekannt ist.

Erst nach dem Tod Frischs (1991) kam manches aus dessen Frühzeit zum Vorschein: etwa der Band mit den 1933 geschriebenen Briefen an die Mutter oder, 2009 wieder veröffentlicht, der kleine Roman »Antwort aus der Stille« von 1937, den sein Verfasser später als »Schmarrn« abgetan hat, nicht zu vergessen die Briefe, Notate und Zeugnisse 1943 bis 1963, die 1998 in der Ausstellung »Jetzt ist Sehenszeit« gezeigt wurden. Die Exposition, damals in einem Suhrkamp-Band dokumentiert, war das Werk des Schweizer Autors Julian Schütt, der inzwischen weiter nach dem jungen Frisch geforscht hat und nun mit einem Buch aufwartet, das unter den Publikationen zum hundertsten Geburtstag eins der auffälligsten ist.

»Was bist du eigentlich, Max? Wozu taugst du denn, Max? Kann man dich überhaupt brauchen auf dieser Welt, Max?« Die Fragen kamen früh. Im Frühjahr 1932 war der Vater gestorben, ein Architekt, und wie sich herausstellte, hatte er nichts als Schulden hinterlassen. Frisch warf daraufhin sein Germanistikstudium hin, das ihm ohnehin nicht beibringen konnte, wie man Schriftsteller wird, klapperte tapfer Redaktionen ab und schrieb fortan Artikel, mal für dieses, mal für jenes Blatt. Die große Chance kam Anfang 1933. Für zwei Schweizer Zeitungen fuhr er Mitte Februar nach Prag zur Eishockey-WM und anschließend weiter nach Budapest, Belgrad, Sarajewo, Dubrovnik, Istanbul, Athen bis nach Rom. Die Reise brachte einige Klarheit. »Schau«, schrieb er der Mutter, »ich weiß nun, was ich kann, und ich weiß, was ich mir zutrauen darf und was über meine Veranlagung hinausgeht …«

Julian Schütt beschreibt episodenreich, wie Frisch sich langsam vortastete in die Literatur, mit Etüden, Skizzen, Impressionen, Fingerübungen, wie er ums Selbstbewusstsein kämpfte, bei alledem aber auch bestrebt war, sich Freiräume zu verschaffen. Fest stand ja nur eins: Er wollte Schriftsteller werden. Er studierte dann aber erst einmal Architektur, nachdem er seine frühen Arbeiten verworfen, verbrannt hatte; er ging erfolgreich seinem Beruf nach, wurde Soldat, heiratete 1942 in eine großbürgerliche Familie, schrieb nebenbei, veröffentlichte den Roman »Die Schwierigen« und die »Blätter aus dem Brotsack«, entwarf nach dem Krieg das Schwimmbad Letzigraben (das Brecht so beeindruckte) und kehrte, nun ohne Wenn und Aber, zur Literatur zurück.

Ein gründliches (auch leicht lesbares) Buch. Da ist die Familie, da sind die Frauen, die Freunde und Kollegen, die Reisen, die Bücher und Stücke des Anfangs. Schütt, wunderbar souverän, gibt auch der politischen Sensibilisierung des jungen Frisch breiten Raum. Es ist ja merkwürdig genug, dass man den Schweizer in unseren Breiten als einen politischen Kopf kaum wahrgenommen hat. Dass er am Anfang politisch eher indifferent urteilte, wusste er selber. Er fuhr 1933 durch das Deutschland Hitlers, sah viel, aber was er da sah, war im Grunde weit weg. Er besprach in der »Neuen Zürcher Zeitung« auch die Bücher aus dem Nachbarland, ohne durch Hellsichtigkeit aufzufallen.

Wacher ist er erst geworden, als in der Schweiz Bedrohungsängste wuchsen. Doch dann, der Krieg war gerade vorüber, machte er sich auf eine kleine Reise, um zu erkunden, was aus Deutschland und den Deutschen geworden war. Kaum ein anderer deutschsprachiger Autor, Exilschriftsteller ausgenommen, war damals so neugierig, wahrheitshungrig wie Frisch. Er lief durch Frankfurt, München, Nürnberg, Würzburg, fuhr nach Italien und Frankreich, besuchte Theresienstadt, Prag, das geschundene Warschau. Ringsum, auch in der Schweiz, bemühte man sich, rasch zu vergessen. Er widersetzte sich dem Trend und geriet in den bald anbrechenden Zeiten des Kalten Krieges schnell in Verdacht, die Sache der anderen Seite zu betreiben.

»Du sollst dir kein Bildnis machen«: Der Satz, der schon im »Tagebuch 1946-1949« auftaucht und im »Stiller« wieder, eine Maxime dieses Lebens, hat in besonderem Maße auch Frischs Verhältnis zu den Fotografen geprägt. Einmal, im Juli 1976, empfing er Robert Lebeck in seinem Haus in Berzona, der ihn beim Boccia-Spiel fotografieren durfte, freilich unter genauer, unmissverständlich formulierter Anweisung. Und die Aufnahmen waren ihm vor Veröffentlichung vorzulegen. Frisch, unzufrieden mit den hängenden Augenlidern und seiner Nase, hat sich, wo er konnte, vor Kameras gedrückt. Vielleicht hat man deshalb der angekündigten Bildbiografie Volker Hages mit besonderer Neugier entgegengesehen. Sie übertrifft, wie sich nun zeigt, alle Erwartungen. Immerhin sind hier 300 Fotos aus Familienalben, Archiven und Privatsammlungen ausgebreitet, darunter viele, die noch nie zu sehen waren, allesamt mit Texten Frisch kommentiert.

»Meine Biographie ist nicht sehr ergiebig», behauptete Frisch 1981 im Gespräch mit Hage. Auch das attraktive Bilderbuch wird dafür sorgen, dass die Zweifel an dieser Feststellung wachsen.

»Max Frisch. Sein Leben in Bildern und Texten«. Hrsg. von Volker Hage. Suhrkamp Verlag. 259 S., geb, 24,90 Euro.

Julian Schütt: »Max Frisch. Biographie eines Aufstiegs«. Suhrkamp Verlag. 592 S., geb., 24,90 Euro.

Taschenbuch-Sonderausgaben des Suhrkamp Verlages zum Geburtstag des Erzählers am 15. Mai
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