... und die Glocken verschwingen

Poesie zu Ostern: Umarmung der Lüfte, das Klima des Herzens und der Traum von der Gärtnerin

  • Lesedauer: 3 Min.

Spuren

Quer über diese Seite laufen Schriftzeichen, die zur Vogelkrallensignatur werden. Geist wird Natur, Kultur zu Kreatürlichkeit, ein guter Weg. So gestaltete Peter Handke den Schutzumschlag seines Romans »Mein Jahr in der Niemandsbucht«. Eine Wegweiserzeichnung. Spurenlegung. Es gibt Weisungen, denen folgt man gern, weil sie deren Gegenteil sind. Verführungen ins Weglose. Gerade jetzt, wo wir für Momente die alljährliche Klassik betreiben: Osterspaziergang.

Der Spaziergänger geht nicht weg, noch gelangt er an ein Ziel. Die Distanz zur Welt bleibt ihm stets die gleiche. Das ist es, das schöne Weltverhalten: immer weitergehen, ohne am Zwang zu leiden, dabei weiterzukommen. Nicht, wie wir über Land gehen, ist wichtig, sondern wie wir über Land schauen. Jede schöne Aussicht ein Bilderrätsel, das uns meint. Alles anschauen, bloß nicht an Rätsels Lösung denken! So sind wir, osterspazierend, ein Teil dessen, das uns übersteigt. Und wir Klugen, Klaren, langweilig Vernünftigen lassen's mit uns geschehen – das ist sie vielleicht schon, die Auferstehung.

"Polnische Osternacht" von Florian Kokot

Niemand hat mich gerufen. Wahrlich wahrlich,

ich sage euch, die Welle Wind, die dauert

wird Asche und Spuren in eure Gesichter

furchen. Alles, was bleibet, es reift so

allmählich. Die Glocken verschwingen.

Lau ist die Erde. Blut wird blühen. Der Mund,

der sich wölbt, von der Kerze getroffen,

stumm harrt er überm Gesicht Morgen.

Niemals, Warszawa, verlodert

das Feuer auf deiner Stirn.

Ostern von Johannes Bobrowski

Dort noch Hügel,

die Finsternis, aber

die Steige sind recht, aus der Ferne

die Ebenen nahn, mit dem Wind

herüber ihr Schrei.

Über den Wald. Der Fluß

kommt, die Birkenschläge

gehen an die Mauer, Türme,

Gestirn um die Kuppeln, das goldne

Dach hebt an Ketten ein Kreuz.

Da

in die finstere Stille

Licht, Gesang, wie unter

die Erde erst, Glocken, Schläge.

Der Stimmen Hähnegeschrei

und Umarmung der Lüfte,

schallender Lüfte, auf weißer

Mauer Türme, die hohen

Türme des Lichts, ich hab

deine Augen, ich hab deine Wange,

ich hab deinen Mund, es ist

erstanden der Herr, so ruft,

Augen, ruft, Wange, ruf. Mund,

ruf Hosianna.

Osterwind von Hilde Domin

Wir haben es den Blumen und Bäumen voraus:

Unsere Jahreszeiten

sind schneller.

Der Tod steigt im Stengel unseres Traums,

alle Blüten werden dunkel

und fallen.

Kaum ein Herbst. Der Winter kommt

in einer Stunde.

Doch da ist keine Wartezeit,

sicheres Warten

für kahle Zweige.

So wie der Vogel

innehält und sich wendet im Flug,

so jäh, so ohne Grund

dreht sich das Klima des Herzens.

Weiße Blütensignale im Blau,

Auferstehung

all unserer toten

Blumen

im Osterwind

eines Lächelns.

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