Das Lineal verinnerlicht – als Augenmaß

Münchner Pinakothek der Moderne: Lyonel Feininger als Zeichner und Fotograf

  • Anita Wünschmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Lyonel Feininger: Ohne Titel (Bäume und Straßenlaterne bei Nacht, Burgkühner Allee, Dessau), 1928. Gelatinesilberabzug VG Bild-Kunst, Bonn 2011
Lyonel Feininger: Ohne Titel (Bäume und Straßenlaterne bei Nacht, Burgkühner Allee, Dessau), 1928. Gelatinesilberabzug VG Bild-Kunst, Bonn 2011

Lyonel Feininger (1871-1956) zerlegte das Meer samt Himmel und Wolken, Boote oder Kirchtürme in fein geschichtete Farbprismen und ordnete seine Bildwelt mit musikalischem Gespür für Rhythmus und Tonqualität. So entstanden nach Erfahrungen in Paris (1911) und seiner Begegnung mit der Künstlergruppe Der Blaue Reiter, mit Klee und Kandinsky, die weltberühmten blauen Bilder kosmischer Qualität, in denen gelegentlich winzige Figuren als Teile einer universellen Struktur fungieren. Seine Bilder folgen einem dualen Prinzip aus Farbflächen und Linien. Dabei arbeitete er so akkurat, dass man glauben möchte, er habe das Lineal als Augenmaß verinnerlicht. Er widmete sich in immer neuen Varianten wenigen ausgewählten Motiven, die wie etwa sein Kirchturm von Gelmeroda ebenso wie seine Segelboote weltberühmt sind.

Im Kupferstichkabinett Berlin gab es vor Kurzem eine aufsehenerregende Ausstellung, die jetzt nach München weitergewandert ist. Sie umfasst Zeichnungen, Aquarelle und – darin liegt das Novum: Fotografien. Erstmals werden aus dem Besitz der Harvard Museums in Cambridge/USA neben noch nie oder selten in Europa gezeigten Zeichnungen aus dem Nachlass des verstorbenen Sammlungsleiters William S. Liebermann auch 76 Vintage-Prints des Künstlers zusammengefasst.

»Glatteis und Nebel auf der Burgkühnauer Allee« lautet der Titel einer 1928 in Dessau aufgenommenen Schwarz-Weiß-Fotografie, die diffuses Licht und sanfte Reflexionen zur vehementen Dunkelheit und einem streng vertikalen Rhythmus der Alleebäume in Kontrast bringt. Und wie in seiner Malerei wird auch hier vom Künstler das Thema variantenreich – schließlich auch als Negativbild mit weißen Bäumen – durchdekliniert. Die Umgebung der Meisterhäuser, die Nachbarschaft in Dessau bei Nacht und Nebel waren erst mal Gegenstand genug. Etwa auch László Moholy-Nagys Atelierfenster (Moholy-Nagy ist der treibende Fotograf am Bauhaus und zugleich Feiningers Nachbar). »Abends um 10 Uhr«, wird dem Foto als Kommentar hinzufügt. Auch: Julia mit Schleierhut. Seine zweite Ehefrau ist die wichtigste Person im Leben des Künstlers und gleichzeitig diejenige, die seinen Nachlass betreute, ehe er den Harvard Museums übergeben wurde.

Das fotografische Werk fand Julia nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Weil Vater Feininger es als ein privates Vergnügen betrachtete? Oder weil – was verständlich wäre – den fotografisch arbeitenden Söhnen Lux und Andreas Feininger kein Familienwettbewerb entstehen sollte?

Das fotografische Oeuvre – meist kleine Abzüge – zeigt Pariser Leben, untersucht die Kirchen in Halle, hält Straßenszenerien in Doppelbelichtung fest, ergründet die Häuserschluchten in New York. Mal dient das Fotografieren allein der Erforschung eines Motivs als Vorlage für die Malerei, mal der schlichten Dokumentation.

Vor allem aber experimentierte er, angeregt durch die Söhne und die Fotoeuphorie am Bauhaus sowie mit Blick auf Klassiker – etwa Alfred Stieglitz –, mit Licht und Schatten, Spiegelung, Doppelbelichtung und schuf ähnlich vertikal komponierte Bilder wie in seiner Malerei.

Nach dem Machtantritt der Nazis emigrierte Lyonel Feininger, um beschwert und beglückt zugleich einen neuen Anfang zu suchen. 1937 schreibt er: »ich fühle mich fünfundzwanzig Jahre jünger, seit ich weiß, dass ich in ein Land gehe, wo Phantasie in der Kunst und Abstraktion nicht als absolutes Verbrechen gelten wie hier.« Und wenige Jahre 1942 später, sein Strich wird weicher und lebendiger, gelegentlich auch expressiver, notiert er: »Ich muss nach Amerika kommen, um mich den strengen Zwängen der geraden und starren Linie zu befreien.«

Zu den »Selbstbefreiungsbildern« gehören auch die hingehaucht zarten, surreal bedrohlichen Gespensteraquarelle. Ein Jahr vor seinem Tod, 1955, nimmt er Kohle oder Bleistift und visualisiert bauliche Rhythmen im Blatt »Blockhäuser« oder zeigt mit hauchdünnen Markierungen das Meer.

»Feininger aus Harvard. Zeichnungen, Aquarelle und Fotografien« bis 17. Juli in München, Pinakothek der Moderne

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