»Der Bedarf an Leichen ist ziemlich groß«

Die Universität Greifswald hat zahlreiche Dokumente zu ihrer NS-Geschichte ins Internet gestellt

  • Martina Rathke, dpa
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Universität Greifswald bringt Licht in ihre bislang lückenhaft aufgearbeitete NS-Vergangenheit. Etliche Institute arbeiteten für die Wehrmacht, das Anatomische Institut bezog Leichen aus Nazi-Gefängnissen. Das alles steht jetzt im Internet.

Greifswald. Am 23. Februar 1943 listet die Philosophische Fakultät der Greifswalder Universität ihre kriegswichtigen Sonderaufträge auf. »Das Physikalische Institut untersteht unmittelbar dem Rüstungskommando und gilt als Wehrmachtsbetrieb«, heißt es in dem Dokument, das jetzt wie andere Originalmaterialien aus der Nazi-Zeit durch ein Projekt der Universität Greifswald im Internet zugänglich ist (www.ns-zeit.uni-greifswald.de ).

Während der Zweite Weltkrieg an den Fronten zu diesem Zeitpunkt Tausende Opfer fordert, arbeiten die Physiker an fünf kriegswichtigen Geheimprojekten, darunter für das Reichsluftfahrtministerium und das Heereswaffenamt. Für alle Projekte, die in dem Dokument nur eine Code-Nummer tragen, bestehe »höchste Dringlichkeitsstufe«, heißt es. Über den genauen Inhalt der Rüstungsforschung ist bis heute wenig bekannt, sagt Dirk Alvermann, Leiter des Universitätsarchivs. Die Verstrickung der Uni mit dem NS-System spiegelte sich auf verschiedenen Ebenen wider, wie die Internetseite zeigt. Anfang 2011 hatte die Hochschule beschlossen, ein Projekt zur Erforschung der eigenen Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 zu starten.

Am 27. November 1944 beklagt sich der Direktor des Anatomischen Instituts der Uni Greifswald, Professor Pfuhl, in einem Brief über den schlechten Zustand der für die Präparationskurse gelieferten Leichen. Er bittet um Nachschub.

»Der Bedarf an Leichen ist ziemlich groß«, schreibt Pfuhl an den zuständigen Oberpräsidenten in Stettin und unterbreitet den Vorschlag, Leichen aus Gefängnissen und Dienststellen der Gestapo sowie von Militärgerichten, »deren Beerdigung nicht notwendig ist, der Greifswalder Anatomie« zu überweisen - möglichst als »Eilgut«. Erst im Januar 1947 werden die Überreste von 69 NS-Opfern aus dem Anatomischen Institut auf dem Greifswalder Friedhof beigesetzt. Greifswald ist nach Jena, Leipzig, Halle und Berlin die fünfte ostdeutsche Universität, die nun nach der Wende ihre NS-Vergangenheit systematisch aufarbeitet. Trotz teilweise sehr guter Vorarbeiten in den 1980er Jahren habe eine systematische Aufarbeitung der NS-Wissenschaftsgeschichte bisher nicht stattgefunden, sagt Alvermann. Die nationalsozialistische Geschichte der Hochschule umfasste mehrere Phasen: die Phase der Gleichschaltung unmittelbar nach der Machtergreifung, die Mobilisierung zwischen 1936 und 1939 und die Kriegsphase bis 1945, wie Archivleiter Alvermann berichtet.

Nur drei Monate nach der Machtergreifung, am 25. April 1933, wurde das »Gesetz gegen die Überfüllung deutschen Schulen und Hochschulen« erlassen und damit die Studienzulassungen für Juden erschwert. Die Greifswalder Uni hat dabei die im Zuge der Verordnung vorgegebenen Begrenzungen von 1,5 Prozent für die Immatrikulation von Nicht-Ariern sogar unterboten. Intern sei eine Marke von 0,15 Prozent beschlossen worden, »um den befürchteten Zuzug von Juden, denen eine Immatrikulation an anderen Universitäten versagt wurde, zu verhindern«.

Elf Prozent des Lehrkörpers fielen allein der ersten Säuberungswelle unmittelbar nach der Machtergreifung zum Opfer. Trotzdem gab es auch aktiven Widerstand an der Universität - so durch den Studentenpfarrer Alfons Maria Wachsmann, der 1943 denunziert und 1944 hingerichtet wurde.

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