Im Streit um die Schönheit

Händel an der Staatsoper im Schillertheater

  • Irene Constantin
  • Lesedauer: 4 Min.

Großgewachsen, gutaussehend, 22 Jahre alt und auch noch begabt, das war Händel, als er 1707 nach Rom kam, der »caro Sassone« eben. Die Kirchenfürsten schmückten sich mit ihrem »lieben Sachsen«.

Ein besonders kunstsinniger Mäzen war der Kardinal Benedetto Panfili, der nicht nur Konzerte veranstaltete, sondern auch Verse schrieb. Von ihm stammt das Libretto zu »Il Trionfo del Tempo e del Disinganno« (»Der Triumph von Zeit und Enttäuschung«). Händel sollte es komponieren, und er ergriff seine Chance. Er zeigte alles, was er konnte. Das Vorspiel ist schon ein Concerto grosso, die Arien sind virtuos, eine Triosonate erklingt mitten im Stück, es gibt Arien und Ensembles mit liedhaft tänzerischem Schwung, vielgestaltige düstere Tongemälde und einen verstörend verhaltenen Schluss. Ein starkes Stück, vielleicht zu viel für das römische Publikum.

Egal, Händel war von seinem Werk offenbar selbst beeindruckt. Dreißig Jahre später brachte er eine veränderte Version des frühen »Triumphes« auf den Londoner Musikmarkt, und dass er sich am Ende seines reichen Lebens den Stoff noch einmal vornahm, hatte sicher tiefere Gründe als den, einen alten Erfolg ein drittes Mal aufzubügeln. Zeit und Wahrheit, die mit dem Vergnügen um die Schönheit ringen, das war offensichtlich das Thema seines Lebens und Schaffens. »The Triumph of Time and Truth« wurde sein letztes Werk.

Händels dramatische Oratorien laden zu szenischer Interpretation förmlich ein. Ein moralisches Traktat hingegen, in dem die handelnden Personen »Piacere« (Vergnügen), »Tempo« (Zeit) und »Disinganno« (Ent-täuschung) heißen und im Streit der Argumente um »Bellezza«, die Schönheit, liegen, braucht eine Übersetzung ins Leben, eine Geschichte.

Regisseur Jürgen Flimm, dessen Händel-Inszenierung aus Zürich nun in Berlin gezeigt wird, psychologisiert die widerstreitenden Argumente der allegorischen Parteien. Das Vergnügen singt dagegen an, sich das Leben unnötig schwer zu machen, die Zeit führt ihr pures Vergehen ins Feld, die Enttäuschung führt ins Jammertal zu spät erkannter Wahrheit. Die von all der Schwarzmalerei vollends eingeschüchterte »Schönheit« legt am Schluss all ihren Schmuck und Zauber ab und will im Nonnengewand in einem abgelegenen Kloster Buße tun. Keiner wird so recht froh dabei. Keiner außer Marc Minkowski und seine Musiciens du Louvre Grenoble. Man spielt wacker im Tutti, in den Soli freilich erlesen.

Erich Wonder schuf das berückend schöne Bühnenbild um diesen Psycho-Krieg herum. Es ist ein riesiges Restaurant, ein Treffpunkt der Reichen und Schönen, um zu sehen, sich zu zeigen, gesehen zu werden. Die seltsamsten Personen kommen und gehen, die zwei Damen mit den tollen Hütchen, die Mutter mit dem wohlerzogenen kleinen Mädchen, die Blumenverkäuferin und die zwei Zeitungsausträger. Es kommen Junkies und verliebte Pärchen, dann die zeitstehlenden grauen Männer und dreimal Händel in eigener Person. Stumme Geschichten von Schönheit, Zeit, Wahrheit und Vergnügen spielen sich im Hintergrund ab, während sie vorn singend ausgetragen werden.

Charles Workman als »Tempo« hatte offenbar keinen guten Tag. Er blieb als Figur über lange Strecken blass, fand bis zur Pause nicht in den Rhythmus der Aufführung. Ebenfalls erst in der zweiten Hälfte überzeugender: Delphine Galou als »Disinganno«.

Von anderem Format und von Anfang an ein Vergnügen, eine Händel-Primadonna wie man sie sich wünscht, war Inga Kalna als »Piacere«. Ihre Stimme hat Fülle und ist farbenreich, durchgreifend in den Bravourarien und unendlich wehmutsvoll in der Resignation. Ihre Arie »Lascia la spina«, »Lass die Dornen, pflücke die Rosen« war eines der beiden Sangeswunder des Abends. Das andere bot Sylvia Schwartz ganz am Schluss. Man musste lange warten und sich wundern, warum die Schönheit mit einer zwar makellosen, jedoch kleinen und zarten Stimme besetzt war. Aber Sylvia Schwartz ist eine Meisterin des Pianos. Wie sie mit dem kaum Hörbaren einen Theatersaal füllen kann, dem Leisesten noch Farben und Nuancen abgewinnen kann, das Verschwindende noch verklingen lässt, war ebenso zu Herzen gehend wie sensationell. Die berühmte Stecknadel hätte man fallen hören können, bevor endlich der Jubel losbrach.

Nächste Vorstellungen: 21. 1.

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