Freiheit und Organisation

Nomaden - eine Ausstellung in Hamburg

  • Antje Stiebitz
  • Lesedauer: 3 Min.

Im Gewölbesaal des Ethnologischen Museums in Hamburg steht ein imposantes Nomadenzelt. In seinem Inneren laden kleine Tischchen und Sitzkissen zum Hinsetzen ein. Der Geruch nach Tieren liegt in der Luft. Das offensichtlichste Exponat der Ausstellung »Brisante Begegnung - Nomaden in einer sesshaften Welt«. Denn genauso verstreut wie die Wandervölker von Marokko bis Sibirien, finden sich die Ausstellungsstücke auf rund 1000 Quadratmetern im ganzen Museum verteilt. Ein Kunstgriff, da die Besucher, während sie durchs Haus wandeln, mit dem grundlegenden Prinzip der Protagonisten konfrontiert werden: Mobilität. Doch die Belege der nomadischen Kulturen - versprengt in verschiedenen Räumen der Dauerausstellungen untergebracht - machen noch auf etwas anderes aufmerksam. Auf die enge Verflechtung zwischen nomadischen und sesshaften Kulturen.

Die Präsentation der 400 Ausstellungsstücke ist das Finale des breit angelegten Sonderforschungsbereichs (SFB) »Differenz und Integration«. Zwei Universitäten arbeiteten interdisziplinär zusammen. Um die 100 Forscher aus Leipzig und Halle untersuchten zehn Jahre lang Geschichte und Gegenwart nomadischen Lebens. Geographen und Ethnologen begaben sich mit den heutigen Nomaden auf Wanderschaft und Historiker und Islamwissenschaftler werteten Quellen aus. Über die Jahre erstellten die Wissenschaftler über 100 Publikationen und knüpften überall auf der Welt Kooperationen, die auch noch nach Ende des Forschungsprojektes Bestand haben werden.

Die Weite des Landes bleibt in Erinnerung - immer wieder endloser Horizont. Doch die Vorstellung, dass Nomaden auf der Suche nach Futter für ihre Tiere planlos in die Ferne ziehen, sei völlig falsch, erklärt Annegret Nippa, Ethnologin und Projektleiterin der Ausstellung. »Alle Nomaden haben ein abgestecktes Territorium, auf dem sie sich bewegen, und alles darüber hinaus ist fremdes Land. Ihr Lebensraum unterliegt einem klaren Ordnungsprinzip und sie wissen genau, wann sie weiterziehen und was sie am angestrebten Ort erwartet.« Die Ergebnisse des Forschungsprojektes zeigen, dass die weitverbreitete Vorstellung der Sesshaften, Nicht-Sesshafte seien ungebildet und ignorant, unhaltbar ist. Wandervölker kennen ihren Lebensraum, wissen um Lokalitäten, Pflanzen, Jahreszeiten und Krankheiten.

Der Freiheit des Blickes in die Weite der Natur stehe die strikte Organisation des Alltags gegenüber. »In den Zelten herrscht Ordnung, alles ist kodiert und ritualisiert«, erläutert Annegret Nippa. Ähnliches gelte für das familiäre Leben, jeder habe fest umrissene Aufgaben. Fasziniert zeigt sich die Ethnologin von der Aufmerksamkeit und der Sorgfalt, mit der Familienmitglieder und die tägliche Arbeit bedacht werden. Da werde das Melken der Schafe zum Ballett und die Begegnung von Menschen bekomme performativen Charakter.

Sind das romantisierende Eindrücke? Genauso wie der Besucher angesichts der formschönen und reich verzierten Gebrauchsgegenstände ins Schwärmen geraten kann? Denn die Ausstellung will ja vor allem auch das Spannungsfeld zwischen zwei sehr unterschiedlichen Lebensweisen thematisieren. Der Handel zwischen den Gruppen führte schon immer zu harmonischem Austausch, doch die Verschiedenheit von Kultur und politischer Struktur bot genauso Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen. Als Projektionsfläche für das »Fremde« sind Nomaden gegenüber den Interessen und Ressentiments der Mehrheitsgesellschaft oder Zentralregierung besonders verwundbar.

Hier spannt die Ausstellung den Bogen zur aktuellen Diskussion um Migration, die eigentlich nichts Neues ist. Denn zu allen Zeiten wurde in Gesellschaften, die sich aus verschiedenen Gemeinschaften zusammensetzten, darüber verhandelt, wie viel Andersartigkeit zugelassen und wie viel Anpassung verlangt wird. Der in der Ausstellung vermittelte Charme des nomadischen Lebens regt dazu an, das Exotische differenziert wahrzunehmen und ihm Platz einzuräumen.

Die Ausstellung im Museum für Völkerkunde Hamburg ist noch bis zum 20. Mai geöffnet.

Motorisierte Nomaden in Tibet. In den vergangenen beiden Jahrzehnten haben sich zwar die Mittel der Fortbewegung verändert, nicht aber die Grundlage nomadischer Tierhaltung: eben die Mobilität.
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Tibetische Nomaden treiben ihre Yaks auf eine Hochweide.
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