Zu arm, um krank zu sein

Kongress: Gesundheitskosten überfordern auch »gescheiterten« Mittelstand

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.
Die systemische Benachteiligung armer Menschen im deutschen Gesundheitssystem ist eines der Themen, das auf dem diesjährigen Kongress »Armut und Gesundheit« in Berlin diskutiert werden.

Eigentlich sollte es in dem gestrigen Workshop um die Benachteiligung vor allem Wohnungsloser gehen, aber Hilfeeinrichtungen für diese Menschen werden zunehmend von einer neuen Klientel aufgesucht. Besonders deutlich macht das die »Praxis ohne Grenze«, die Uwe Denker, Allgemeinmediziner im Ruhestand aus Bad Segeberg, vorstellte. Denn Obdachlose gibt es in der beschaulichen Kleinstadt, die vielen als touristisches Ziel bekannt ist, nicht, durchaus aber »Mittellose«.

Denker schildert die Krankengeschichte eines 49-jährigen ehemals Selbstständigen. Dieser konnte seit Jahren seine Krankenversicherung nicht mehr bezahlen, ging also auch jahrelang nicht mehr zum Arzt. Als er sich endlich in die ehrenamtlichen »Praxis ohne Grenzen« wagte, wurde unter anderem Diabetes bestätigt, was der Patient bereits selbst über das Internet herausgefunden hatte. Jedoch musste er bald mit einem Gangrän ins Krankenhaus eingewiesen werden, der große Zeh wurde amputiert, eine »entgleiste Diabetes« diagnostiziert - aber nun sitzt der ohnehin verschuldete Mann auf einer Krankenhausrechnung von 5000 Euro. Fazit von Uwe Denker: »Der ›gescheiterte‹ Mittelstand hat Schwierigkeiten, sich gesundheitlich zu versorgen.« Diese Menschen kommen zwar auch nur sehr zögerlich in die Gesundheitsstationen für Wohnungslose, aber sie kommen.

Bestätigt wurde die Tendenz durch Daten, die aus der Aufsuchenden Gesundheitsfürsorge für Wohnungslose in Hannover stammen. Zunächst wurde dort seit dem Jahr 2000 eine wachsende Zahl von Behandlungsfällen verzeichnet, 2011 waren es etwa 3400. Die Hälfte der Patienten waren zwischen 40 und 59 Jahre alt. Die Zahl derjenigen, die in Wohnungen lebten, auch wenn sie die Miete nicht selbst finanzieren können, stieg in den letzten Jahren jedoch von 27 auf 57 Prozent.

Und auch das Krankheitsspektrum verschob sich. Zwar spielen psychische Erkrankungen, oft mit Suchtproblemen verbunden, mit 33 Prozent noch eine große Rolle. Jedoch machen Herz-Kreislauf-Leiden bereits 21 Prozent aus. Es gibt noch einen weiteren Grund, der für Verena Lührs vom Zentrum für Qualität und Management im Gesundheitswesen aus Hannover dafür spricht, dass sich immer mehr Klienten aus der »Armutsbevölkerung« einfinden: 62 Prozent der Betroffenen brauchen eine Kostenübernahme - entweder für ein Rezept oder für eine Überweisung zu einem Facharzt, für die sie ansonsten bei einem Hausarzt die Praxisgebühr zahlen müssten.

Auf diese Verschiebung der Klientel, so Gerhard Trabert vom Verein »Armut und Gesundheit in Deutschland« e.V., machen etliche Organisationen schon seit Jahren aufmerksam. Seine Kritik: »Auch Ärzte hätten das schon wahrnehmen können.« Er wies noch einmal darauf hin, dass 40 Prozent der verschuldeten 40- bis 50-Jährigen in Deutschland durch Krankheit in diese Lage kamen. Auch Verschuldete und Hartz-IV-Empfänger sind aber der seit Jahren zunehmenden Kostenbeteiligung im Gesundheitswesen ausgesetzt. Insofern sei die Forderung nach Abschaffung von Praxisgebühr und den diversen Zuzahlungen sehr aktuell, zumal Versuche der Betroffenen, ihren Bedarf etwa über die Jobcenter erstattet zu bekommen, regelmäßig nicht anerkannt würden.

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