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Charlottengrad

»Moskau Tscherjomuschki« - Schostakowitschs einzige Operette an der Staatsoper Berlin

  • Ekkehart Krippendorff
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Berliner Staatsoper hat einen Fund gemacht: Schostakowitschs einzige Operette, 1959 in Moskau uraufgeführt, schnell ob ihrer leicht zugänglichen Musik in der Sowjetunion populär geworden, vom Komponisten mit anscheinend beunruhigtem musikalischen Gewissen verteidigt - »auch Mozart und Beethoven haben leichte Stücke geschrieben, und niemand verübelt es ihnen« - aber seitdem wohl eher vergessen, jedenfalls in Deutschland so gut wie unbekannt.

Es darf bezweifelt werden, ob das lautstarke, von dem türkischstämmigen Nico Celik mit einem großen Chor Jugendlicher, zehn Solisten (herausragend: Kap-Sung Ahn) und einem Tänzerduo der Ballettschule inszenierte Werk nun auf deutschen Bühnen heimisch werden wird. Zu leichtgewichtig ist die Musik, zu dramaturgisch ungenau das Libretto, mit zu viel unmotivierter Choreografie musste sie gerechtfertigt werden (dass Schostakowitsch trotzdem einer der Großen des 20. Jahrhunderts ist, bleibt davon unberührt).

Als Eindruck bleibt ein großes Kindertheater, banale Dialoge bis an die Grenze des Erträglichen (und teilweise diese Grenze überschreitend), auch wenn die Jugendlichen sich mit großem Enthusiasmus ihrer chorischen Rolle bemächtigen, und eine bisweilen peinlich nichtssagende Bewegungsregie überspielen. Wer hingeht, um Schostakowitschs oder der Seltenheit dieser Operette willen, der wird enttäuscht sein.

Trotzdem gibt es zwei Erfahrungen zu machen: die erste mit der Diskrepanz zwischen Musik und dramatischem Stoff. Auch wenn die hier verhandelte Sache sich als Komödie oder Farce präsentiert: Tatsächlich wird eine menschliche Tragödie erzählt: Die dramatische Wohnungsnot und die erzwungene Zusammenlegung mehrerer Familien - Ehepaare und/oder junge Leute müssen außer Haus gehen, um allein sein zu können: Diese Menschen sind verzweifelt und haben nichts zu lachen. Obwohl während des »Tauwetters« geschrieben, könnte es sein, dass der unter dem Stalinismus in ständiger Bedrohung lebende Komponist es auch jetzt noch nicht gewagt hat, die menschliche Tragödie der Wohnungslosigkeit musikalisch nachvollziehbar zu machen und dass darum diese Musik so gefällig und populär daherkommt. Sie verdeckt die bittere Wirklichkeit ihres Gegenstandes.

Der zweite Gewinn von »Moskau Tscherjomuschki« besteht in einem faszinierenden Projekt der »Jungen Staatsoper«, sich um ihr soziales, historisches und kulturelles Umfeld zu kümmern: Charlottenburgs russisch-stämmige Minderheit. Für diese Produktion hat man systematisch Jugendliche, viele davon russischsprachig, eingeladen und der Operette eine geradezu spannende Basis zu geben.

Das hervorragend gestaltete Programmheft erläutert mit historisch-soziologischer Recherche warum es tendenziell nicht völlig abwegig ist, in terminologischer Zuspitzung von Charlottenburg als »Charlottengrad« zu sprechen - dies der Name eines ambitionierten Projekts, das uns die kulturelle Bereicherung Berlins als einer multikulturellen Metropole bewusst macht. Die russischen Wurzeln »Charlottengrads« gehen übrigens zurück bis in die frühen zwanziger Jahre, worüber das Programmheft ebenfalls viele vergessene und erinnernswerte Zeugnisse zitiert. Insofern lohnt sich der rein künstlerisch eher unbefriedigende Abend in der Werkstatt der Staatsoper im Schillertheater.

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