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  • Die Invasion am 6. Juni 1944

Der Himmel über Lyon war nicht wolkenlos

Die Erinnerungen des Ernst Melis an den 6. Juni 1944

Die Invasion kam nicht ganz überraschend - jedenfalls nicht für die Kämpfer der Résistance. »Weil wir unsere Ohren am Radio hatten«, erzählt Ernst Melis, ein Deutscher im französischen Widerstand. »Verschlüsselte Sprüche aus London deuteten darauf hin, dass demnächst etwas geschehen werde: Der Apfel ist reif. Der Onkel besucht dich bald....«
Die Codes sind für die armée secrete, die Untergrundarmee, bestimmt, die von General de Gaulle von London aus kommandiert wird. Mit den Gaullisten, aber mehr noch mit den bewaffneten Widerstandsorganisationen Combat, Francs-Tireurs und Maquis stehen Melis und Genossen in Kontakt. Auch mit belgischen, holländischen und jüdischen Gruppen. Man tauscht Informationen aus über Besatzungsmacht und Frontverlauf, unterstützt sich materiell und finanziell.

Odyssee eines Illegalen: von Prag nach Paris
In den frühen Morgenstunden des 6. Juni 1944, noch bevor der gallische Hahn kräht, dringt über den Äther die verheißungsvolle Nachricht: »Der Himmel über Frankreich ist wolkenlos.« Nun wissen Melis und seine Gefährten in Lyon, dass die lang erhoffte Eröffnung der Zweiten Front im Gange ist. Wo? An der Küste der Normandie, wie sie bald durch offizielle Nachrichten erfahren. »Wir haben uns sogleich, gegen acht oder neun Uhr, im Lokal von Alfons, einem Gaullisten, getroffen. Um zu beraten, was wir nun tun können zur Unterstützung der Alliierten. Es war klar, dass in den nächsten Tagen ganze Formationen deutscher Truppen gen Westen losgeschickt werden.« Tatsächlich wird für Wehrmachtsangehörige Ausgangssperre und höchste Alarmstufe verfügt.
Im November 1942 waren die Deutschen in die zone nono, die unbesetzte Zone, in Südfrankreich einmarschiert. Bis dahin hatte hier Vichy als Statthalter von Hitlers Gnaden residieren dürfen. Aber schon damals war auch hier die deutsche Okkupationsmacht allgegenwärtig, »sie hatte die Flughäfen unter Kontrolle, die Eisenbahn und kriegswichtige Betriebe«, erinnert sich der heute 95-Jährige. Seine Wohnung am Frankfurter Tor in Berlin schmücken Aquarelle von Marc Chagall und Zeichnungen von Max Lingner: Résistancekämpfer, die Befreiung von Paris...
Einer Odyssee gleicht die Geschichte, die Ernst Melis in das Land des Weins und der Großen Revolution verschlagen hat. Der gelernte Dreher und von der Gestapo steckbrieflich gesuchte Kommunist ist Ende 1933 aus Deutschland geflohen. Holland, Schweden, Finnland, die Sowjetunion sind Stationen seines Exils. Ende 1938 verlässt er die gerade per Münchner Diktat zerschlagene Tschechoslowakei, geht nach Paris. Dort wirkt er an der »Deutschen Volkszeitung« mit. Bis zum 14. Mai 1940. An diesem Tag wird er von der französischen Militärpolizei verhaftet. Die deutsche Wehrmacht steht an den Grenzen Frankreichs. Belgien, Holland, Luxemburg sind überrollt. Erst der drole de guerre, der komische Krieg des Westens nach dem deutschen Überfall auf Polen, und nun Hitlers Blitzkrieg gen Westen. »Die französischen Soldaten hatten die Nase voll, desertierten in Scharen.« In eine der täglichen Razzien der Militärpolizei gerät André Thomas, wie Ernst Melis laut seiner carte identité heißt. Er kann sich zwar den Beamten erklären, wird aber nicht entlassen und kommt Anfang Juni, als die Wehrmacht kurz vor Paris steht, in ein Lager, das für tausende erwartete deutsche Kriegsgefangene eingerichtet worden ist. »Wir waren vierzehn Mann in dem Lager, vor allem Emigranten.«
Melis gelingt die Flucht, an dem Tag, als Italien Frankreich den Krieg erklärt. Gleich Tausenden, Franzosen und Emigranten unterschiedlichster Nationalität, Frauen, Männer, Kinder, versucht er sich nach Süden durchzuschlagen. Nicht allein. Mit ihm auch einige deutsche und österreichische Kampfgefährten. Sie ziehen zu Fuß über die verstopften Landstraßen, über Wiesen, durch Wälder und Felder, durchs Gebirge. Ab und an werden sie von französischen Militärfahrzeugen mitgenommen. Die Gruppe findet zeitweilig Obdach bei gutherzigen Franzosen. So bei der Familie Carriven. Der Sohn eines Weingutbesitzers und dessen deutsche Frau Lisa, vor dem Krieg Vertreterin einer Schallplattenfirma in Berlin, umsorgen und beköstigen sie liebevoll. »Das ging ganz gut, bis wir selbstständig sein und unsere antifaschistische Arbeit wieder aufnehmen wollten.«

Not macht erfinderisch
Toulouse gleicht einem Bienenhaus. »Ein völliges Chaos, man konnte sich nur mit den Ellenbogen durch die Hauptstraßen wühlen.« Die Stadt, die sonst 120000 Einwohner zählt, muss jetzt 600000 Menschen aushalten. Flüchtlinge aus dem Norden. Hier alte Kampfgefährten wieder zu finden, muss der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen gleichen. »So schwer war das nicht«, meint Melis. »Man traf sich, wo es lebenswichtige Güter gab.«
In Toulouse, im Hotel Metz, hat auch die belgische Regierung Unterschlupf gefunden. »Die ganze Bande, der Premier und seine Minister, und sogar einige Soldaten. Jeden Morgen wurde Appell geblasen.« Aber, und dafür sind Melis und Genossen dankbar, die Belgier haben ihr Rotes Kreuz vor Ort. Deren Mitarbeiter geben in der großen Markthalle Essen aus. Für mittellose Emigranten ein Segen.
Sie blieben nicht lange ohne Mittel. Jahrelanges Exil macht erfindungsreich. »Wir haben uns in der Kaserne Niel demobilisieren lassen. Da war ein solcher Andrang, da hat keiner nachgefragt. Man musste nur seinen Namen nennen, bekam einen Demobilisierungsschein und 800 Francs. Das Geld konnte man sich auch bei jeder mairie, Bürgermeisterei, abholen.« Verschmitzt fügt Melis hinzu: »Einer unserer Kameraden hat in einem unbeobachteten Augenblick lange Finger gemacht und einen Stapel Blanko-Scheine vom Schreibtisch stibitzt. Damit konnten wir mehreren Genossen Papiere verschaffen, auch deinem Großvater«, sagt er mir. Das wusste ich nicht, wohl aber, dass Walter Vesper damals zwischen Marseille und Paris pendelte und später am Aufstand in der Hauptstadt beteiligt war.
Die Zweite Front ist noch in weiter Ferne, als Melis und seine Freunde sich an die Aufklärungsarbeit machen. Sie fertigen Handzettel und Flugblätter, die an Orten, wo deutsche Soldaten anzutreffen sind, verteilt werden: »Deutschland muss leben - deshalb muss Hitler fallen. Frieden oder Friedhof. Macht Schluss mit dem Krieg. Rettet euer Leben.« Auch eine Zeitung entsteht: »Der Soldat am Mittelmeer«. Es ist nicht immer leicht, Papier und Druckerschwärze zu besorgen. Französische Patrioten helfen. In der Not muss Zigarettenpapier für Parolen herhalten. Die Illegalen beweisen Fantasie. Sie zerschnippeln Briefmarken mit dem Bildnis von Marschall Petain, dem Kollaborateur, und kleben dieses auf die linke Ecke von Zwanzig-Franc-Noten - in die Stricke des Netzes, das ein bretonischer Fischer aus dem Meer zieht.
Bald haben Melis und camarades selbst ein dichtes Netz geknüpft. Die Matrizen der Zeitung, Hand- und Klebezettel werden in Montpellier, Marseille, Sète, Béziers und Carcassonne vervielfältigt. Dank einer österreichischen Gruppe um Oskar Großmann hat sich ein sprudelnder Quell von Informationen aus deutschen Heeresdienststellen, der Organisation Todt, Fliegerhorste in Bron und Montélimar sowie Militärlazaretten aufgetan. Artikel und Flugschriften sollen den Landsernerv treffen, müssen also authentische Stimmungen wiedergeben.
Vorsichtig wagen Melis und Genossen auch Gespräche mit den Besatzungssoldaten - sie bieten in Geschäften, Kneipen, im Kino Kommunikationshilfe an, übersetzen. »Wenn man erklärte, dass man aus dem Elsass stammt, war jeder Verdacht zerstreut, warum man so gut deutsch sprach. Natürlich musste man immer auf der Hut sein.« Melis macht die Erfahrung, dass die älteren Jahrgänge kaum ansprechbar, ja »abweisend und borniert« sind. »Aufgeschlossen waren eher die Jüngeren, von denen wir dachten: Das sind alles Hitler-Buben, da hat es keinen Sinn.« Doch nach Stalingrad griff die Auffassung Platz: »Wir sind verraten und verkauft worden. Und wer ist schuld? Der mit dem Bärtchen.«
Schließlich erhält Ernst Melis über französische Bekannte einen Pass, der ihn als Händler für die Spedition Schenker ausweist. »Das war eine riesige Räuberbande, die ihre Agenten überall hin schickte, um auszukundschaften, wo es Vorräte zu plündern gab. Die haben Frankreich regelrecht ausgeraubt.« Aber deren Ausweis ist von unschätzbarem Wert. Er ermöglicht es, in allen Zügen mitzufahren und gewährt ein Stück Sicherheit. Zwei Mal in der Woche rollt der Soldaten-Urlauberzug von Biarritz nach Mühlhausen und zurück. Ernst Melis steigt in Lyon zu, reist einige Stationen mit und lauscht. Was er hört, ist wertvoll für die eigene Arbeit und die bewaffneten Kämpfer der Résistance. Hier sind auch Kontakte leichter anzuknüpfen. »Weil das deutsche Rote Kreuz an jeder Haltestelle aus dem großen Weinfass Frankreichs neue "Munition" heranschaffte. Und die Soldaten, die ihren Urlaub hinter sich hatten, ihren Frust wegspülen mussten. Da haben sich Zungen gelockert.« Unglaublich auch, was in den Zügen alles liegen gelassen wird: Uniformjacken, Papiere, sogar Waffen. »Die Eisenbahner haben das alles der Wehrmachtsfundstelle zugeführt. Dort hatten wir einen Mann, der einiges beiseite schaffte«, verrät Melis. Nicht zuletzt bietet die Mitfahrt Gelegenheit, Adressen zu sammeln, die an den Gepäckstücken mit Feldpostnummern vermerkt sind. »Da konnten wir unsere Druckschriften per Streifband unter der fiktiven Kennung "Deutsche Zeitungsverlage GmbH" direkt an den Mann bringen«, freut sich der Veteran.
Momente der Freude sind selten im Leben eines Illegalen. Als Ernst Melis im Juni 1943 zur Vorbereitung einer Sonderausgabe von »Soldat am Mittelmeer« anlässlich der Zerschlagung von Rommels Afrikakorps in Lyon weilt, bricht französische Polizei in seine Wohnung in Toulouse ein und verschleppt seine Frau Reina, eine Holländerin, und Söhnchen Francois in das Lager Noe. Reina kann befreit werden, Francois nicht. Er kommt in ein Kinderheim - bis Kriegsende.

Es gab Tripe à la mode de Caen

Die Landung in der Normandie beflügelt französische Patrioten, die ihre bewaffneten Kräfte im Frühjahr des Jahres zu den Forces Francaises de l Intérieur (FFI) zusammengeschlossen haben, den Aufstand in Paris zu wagen. Am 19. August. Am 25. des Monats ziehen französische und amerikanische Einheiten in die Seine-Metropole ein. Bis dahin sind noch viele Opfer zu beklagen, so in Oradour-sur-Glane. Auch in Lyon werden 130 Geiseln erschossen. Am 11. Juni wird Karl Katzenberger verhaftet. Er hatte im Artilleriepark von Lyon als Tankwart gearbeitet und Melis und Genossen sowie den Maquis mit lebensrettenden Auskünften über Einsatzkommandos versorgt. Kurz vor seiner Ablieferung im Gestapo-Hauptquartier von Lyon versucht Katzenberger zu fliehen, wird von Schüssen getroffen und in die Mörderzentrale von Barbie geschleppt. »Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört«, flüstert Melis. Der Schmerz bleibt.
War der Himmel über Lyon am 6. Juni 1944 wolkenlos? »Nein. Lyon ist ein Nebelnest.« Und doch war es ein Freudentag. Alfons spendiert seinen Deutschen, die keine boches sind, Pinot noir und Calvados. Und preist zur Stärkung und Ermunterung der Passanten und Kunden seines Lokals als Spezialität des Tages »Tripe à la mode de Caen« an: Eingeweide, mit Zwiebeln und Karotten in Apfelwein gekocht. Ein Gericht aus der heiß umkämpften Stadt in der Normandie.

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