Mehr als soziale Reparatur?

Ilja Seifert ist behinderten-politischer Sprecher der Linksfraktion

  • Lesedauer: 3 Min.
Fragwürdig – Mehr als soziale Reparatur?

nd: Herr Seifert, gestern begann die Veranstaltung »Menschen mit Behinderungen im Deutschen Bundestag«. Ist das ein Fortschritt zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK)?
Seifert : Auf jeden Fall ist es ein erster großer Dialog zwischen Politikern und Betroffenen. In diesem Umfang hat so etwas noch nie statt gefunden.

Aber es hat ein Jahr länger gedauert als geplant. Was war das Problem?
Das Problem war, dass nicht so viele Rollstuhlfahrer gleichzeitig in den Reichstag konnten, wie wir wollten. Das Problem besteht immer noch. Deswegen findet die Veranstaltung jetzt im Paul-Löbe-Haus statt. Uns war der Dialog zwischen Politikern und Betroffenen wichtiger als eine möglichst große Anzahl von Rollstuhlfahren. Außerdem gibt es auch Menschen mit anderen Behinderungen, etwa Blinde oder psychisch Kranke. Mit einer Quote von 84 zu 300 insgesamt Eingeladenen sind die Rollstuhlfahrer durchaus nicht unterrepräsentiert.

Ist die UN-Konvention bislang gut umgesetzt in Deutschland?
Nein, überhaupt nicht. Es gibt noch einen sehr großen Nachholbedarf. Die Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung ist bei Weitem noch nicht dort, wo sie sein sollte - nicht bei den Politikern und erst recht nicht im Alltag der Bevölkerung.

Was müsste getan werden?
Es ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Ein erster Schritt wäre, dass die Medien vermitteln, dass Menschen mit Behinderungen ein Teil der Bevölkerung sind und dazu gehören. Der entscheidende Punkt ist, dass man sie nicht an ihren Defiziten, sondern an ihren Fähigkeiten misst. Das betrifft Menschen mit und ohne Behinderungen gleichermaßen.

Wird der Dialog jetzt nach dem Motto »Nichts über uns ohne uns« geführt, wie die Konvention es fordert?
Ja. Die behinderten Menschen melden sich hier sehr laut zu Wort und äußern ihre Vorschläge und Kritik sehr deutlich. Das Problem ist nur, dass es zwar unter den Politikern einen parteiübergreifenden Konsens gibt, dass etwas getan werden sollte. Doch wenn es um die praktische Umsetzung gehen soll, fehlt meistens das Geld oder es steht gerade etwas Wichtigeres auf der Tagesordnung. Es gibt durchaus Unterschiede, ob man bei der Umsetzung der Konvention die Menschenrechtsdimension in den Mittelpunkt stellt oder das Ganze mehr oder weniger als soziale Reparatur ansieht.

Was meinen Sie damit?
Es geht um die Frage, ob man einem Menschen mit Behinderung nur einen kleinen Brocken hinwirft oder ob man ihm die volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Dann muss man diesen Menschen die Möglichkeit geben, sich frei entfalten zu können. Doch davon sind wir noch weit entfernt und auch innerhalb der Parteien gibt es da unterschiedliche Herangehensweisen.

Fängt das nicht schon in der Schule an?
Natürlich. Deutschland ist diesbezüglich ein Entwicklungsland. Nur 29 Prozent der Schüler mit Behinderungen gehen auf eine Regelschule. In anderen europäischen Ländern sind das teilweise 90 Prozent. Und da müssen wir hin.

Fragen: Simon Poelchau

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