Die Sieger heißen Hamas und Mursi

Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery sagt: Palästina muss nun als Beobachterstaat in der UNO anerkannt werden

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»Wir müssen dem endlich ein Ende bereiten (dem Raketenbeschuss, den Palästinensern, den Arabern?), ein für alle Mal!« - dieser Ausruf aus tiefstem Herzen war im Fernsehen jeden Tag dutzendfach von betroffenen Israelis zu hören, die in den unter Beschuss stehenden Städten und Dörfern im Süden Israels leben. Das neue Motto hat das bisherige abgelöst, das Jahrzehnte lang dominant gewesen ist: »Draufhauen und fertig!« Es hat nicht ganz funktioniert.

Aus den Rauchschwaden tritt nun ein großer Sieger hervor: die Hamas. Bis zu dieser Runde hatte die Hamas zwar stets eine starke Präsenz im Gazastreifen, international aber keinerlei Einfluss. Das weltweite Gesicht des palästinensischen Volkes gehörte Mahmoud Abbas und seiner Palästinensischen Autonomiebehörde. Das war einmal. Die israelische Militäroperation »Wolkensäule« hat dem Ministaat der Hamas internationale Anerkennung verschafft. So machten sich Staats- und Regierungschefs und andere politische Würdenträger auf den Weg nach Gaza. Zunächst kam der Emir des Wüstenstaates Katar vorbei, dem dank seines Vermögens auch der internationale Fernsehsender Al Dschasira gehört. Als erstes Staatsoberhaupt überhaupt stattete er Gaza einen Staatsbesuch ab. Ihm folgte der ägyptische Regierungschef, der tunesische Außenminister, der Sekretär der Arabischen Liga. In allen diplomatischen Bemühungen und Kontakten wurde Gaza dabei als De-facto-Staat mit De-facto-Regierung (die Hamas) behandelt. Die israelische Presse bildete dabei keine Ausnahme. Den Israelis war klar, dass ein effektives Abkommen nicht ohne die Hamas gemacht werden könne.

In der palästinensischen Bevölkerung nahm das Ansehen der Hamas rasant zu. Der Gazastreifen (nicht größer als ein kleines deutsches Bundesland) bot der mächtigen israelischen Kriegsmaschinerie, eine der schlagfähigsten und effizientesten der Welt, die Stirn. Gaza ist nicht zusammengebrochen. Militärisch wird es zumindest ein Unentschieden geben. Ein Unentschieden zwischen dem winzigen Gaza und dem mächtigen Israel, das bedeutet einen Sieg für Gaza. Wer erinnert sich heute noch an die markigen Worte des israelischen Verteidigungsministers zu Beginn der Auseinandersetzungen, als er verkündete: »Wir werden nicht aufhören bis die Hamas in die Knie geht und um einen Waffenstillstand winselt.«

Wo aber bleibt da Mahmoud Abbas, der Palästinenserpräsident? Im Grunde genommen nirgendwo. Für den einfachen Palästinenser, ob nun in Nablus, Gaza oder Beirut, könnte der Unterschied kaum deutlicher sein. Hamas ist mutig, stolz, standhaft - Abbas und seine Fatah-Bewegung dagegen sind hoffnungslos, unterwürfig und verachtet. Stolz und Ehre spielen in der arabischen Kultur eine zentrale Rolle. Nach über einem halben Jahrhundert der Demütigung wird jeder Palästinenser, der sich gegen die Besatzer auflehnt, in der arabischen Welt als Held gesehen. Abbas dagegen bringt man heute nur noch mit der engen Zusammenarbeit seiner Sicherheitskräfte im Westjordanland mit der israelischen Besatzungsarmee in Verbindung. Und am wichtigsten: Abbas hat nichts dadurch gewonnen.

Anders wäre es, wenn er für diese schmerzhaften Zugeständnisse zumindest politische Erfolge vorweisen könnte. Palästinenser sind vernünftige Menschen, und hätte Abbas es geschafft, die Palästinensergebiete zumindest einen Schritt näher an die staatliche Anerkennung heranzuführen, die Palästinenser hätten wohl gesagt: Glanzvoll mag er nicht sein, aber er liefert Resultate. Das Gegenteil ist aber der Fall. Die gewaltsame Hamas erzielt Ergebnisse, der gewaltfreie Abbas nicht. Wie mir ein Palästinenser einmal sagte: »Abbas gibt den Israelis was sie wollen, Ruhe und Sicherheit, und was tun sie (die Israelis) für ihn? Sie spucken ihm ins Gesicht.« Diese Runde wird bei den Palästinensern den Eindruck hinterlassen: »Die Israelis verstehen nur die Sprache der Gewalt«. Was natürlich genau das ist, was Israelis stets über die Palästinenser sagen.

Hätten die USA Abbas zumindest zugestanden, vor den Vereinten Nationen eine erfolgreiche Resolution zur Anerkennung der Palästinensergebiete als Nichtmitgliedsstaat durchzubringen, er hätte zumindest etwas vorzuweisen gehabt. Aber die israelische Regierung ist fest entschlossen, einen solchen Schritt mit allen Mitteln zu verhindern. Selbst nach seiner Wiederwahl hat USA-Präsident Barack Obama entschieden, den Vorschlag abzuwehren, ein symbolischer Schlag ins Gesicht des »gemäßigten« Palästinenser-Lagers und ein Vorteil für die Hamas. In diesem Schatten stand auch der flüchtige Abstecher von Außenministerin Hillary Clinton in das Westjordanland in diese Woche.

Von außen betrachtet wirkt das alles schier verrückt. Warum die »Gemäßigten« schwächen, die Frieden schaffen wollen und das auch könnten? Warum den »Extremisten« zu Ansehen verhelfen, die selbst keinen Frieden anstreben? Eine offene Antwort darauf liefert Avigdor Lieberman, israelischer Außenminister und die offizielle Nummer 2 hinter Premierminister Benjamin Netanyahu: Abbas soll aus dem Weg geräumt werden, um das Westjordanland wieder vollständig unter israelische Kontrolle zu stellen und somit Platz zu schaffen für neue israelische Siedler.

Der zweite große Sieger heißt Mohammed Mursi. Seine Geschichte ist fast unglaublich. Als Mursi zum ägyptischen Staatspräsidenten gewählt wurde, löste das in Israels Regierungskreisen schiere Hysterie aus. Wie grauenhaft! Die islamistischen Extremisten hatten im wichtigsten Land der arabischen Welt die Macht ergriffen. Das war es dann wohl für unser Friedensabkommen mit den Ägyptern. In den USA sah man es ebenso.

Und nun - keine vier Monate später - hängen wir an Mursis Lippen. Er ist der Mann der den tödlichen Auseinandersetzungen und gegenseitigen Zerstörungen ein Ende bereitete! Er ist der große Friedensstifter! Er ist der einzige, der zwischen Hamas und Israel verhandeln kann! Nur er kann ein Waffenstillstandsabkommen herbeiführen.

Kann das sein? Geht es hier um denselben Mohammed Mursi, dieselbe Muslimbruderschaft? Der 61-jährige Mursi - mit vollem Namen Mohammed Mursi Isa al-Ayyad. Isa ist der arabische Name für Jesus, der im Islam als Prophet gilt - ist auf dem Parkett der internationalen Politik ein völliger Novize. Doch im Moment sind alle politischen Führer auf ihn angewiesen.

Als ich aus ganzem Herzen den Wandel des »Arabischen Frühlings« begrüßte, hatte ich Menschen wie Mursi im Sinn. Mittlerweile sind in Israel alle einstigen Mursi-Kritiker ob Ex-Militärs, Journalisten oder Politiker, voller Anerkennung für seine Leistung, den Waffenstillstand zwischen Hamas und Israel herbeigeführt zu haben.

Als die Auseinandersetzungen noch anhielten, tat ich, was ich in solchen Situationen immer tue: Ich schaltete zwischen israelischen Nachrichtensendern und Al Dschasira hin- und her. Manchmal, wenn meine Gedanken dabei abschweifen, muss ich mich sehr konzentrieren um herauszufinden, welchen der Sender ich nun eigentlich sehe.

Weinende Frauen, Verwundete die abtransportiert werden, zerstörte Wohnhäuser, leere Kinderschuhe auf der Straße, fliehende Familien. Hier wie dort. Spiegelbilder. Natürlich lagen die palästinensischen Opferzahlen beim Dreißigfachen der israelischen, größtenteils weil das israelische Raketenabwehrsystem »Iron Dome« gut funktionierte und den Israelis flächendeckend Schutzräume zur Verfügung stehen, während die Bevölkerung Gazas praktisch schutzlos ist.

Am Mittwoch war ich eingeladen, an einer Sendung des israelischen Fernsehsenders Channel 2 teilzunehmen, der beliebtesten (und patriotischsten) TV-Station des Landes. Ich war nicht überrascht, als die Einladung im letzten Moment zurückgezogen wurde. Hätte man mir dort Sendezeit eingeräumt, ich hätte meinen israelischen Mitbürgern eine einzige Frage gestellt: War es das wert? All das Leid, die Toten, die Verwundeten, die Zerstörung, die Tage und Stunden des Grauens, die traumatisierten Kinder?

Und, wenn ich das hinzufügen darf, die endlose Fernsehberichterstattung rund um die Uhr. Legionen von Ex-Militärs, die dem TV-Publikum berichteten, was ihnen ihre Kontakte aus den Regierungsbehörden um Premierminister Netanjahu zuvor in die Notizbücher diktiert hatten. Und die bluttriefenden Drohungen und Forderungen von Parteipolitikern und zweifelhaften Persönlichkeiten wie dem Sohn des ehemaligen Regierungschefs Ariel Scharon, der öffentlich forderte, ganze Stadtteile von Gaza City in Schutt und Asche zu legen, besser wohl noch gleich den ganzen Gazastreifen. Jetzt, da alles vorbei ist, sind wir fast genau wieder dort, wo wir am Anfang standen. Der Militärschlag, von dem die Israelis umgangssprachlich als eine weitere »Runde« reden, endet in der Tat da, wo er seinen Anfang nahm. Im Gazastreifen sitzt die Hamas nach wie vor fest im Sattel. Fester gar als zuvor. Gazas Bevölkerung wird die Israelis nun noch mehr hassen als ohnehin schon. Im Fatah-dominierten Westjordanland werden all jene Menschen, die während der Auseinandersetzungen zu Tausenden auf die Straßen zogen und für Hamas demonstrierten, ihr bei den nächsten Wahlen die Stimme geben. Für die Israelis ändert sich auch nicht viel, ihre nächsten Wahlen werden wie zuvor schon geplant in zwei Monaten abgehalten.

Jede Seite feiert nun ihren großen Sieg. Würden sich beide Seiten zu einer gemeinsamen Siegesfeier zusammentun, könnte viel Geld gespart werden. Welche politischen Schlussfolgerungen aber können wir ziehen?

Die vorrangige lautet: Redet mit Hamas. Direkt. Von Angesicht zu Angesicht. Yitzhak Rabin sagte mir zu seinen Lebzeiten einmal, er sei zu dem Schluss gekommen, für ihn führe nichts an direkten Gesprächen mit der PLO vorbei. Nachdem er sie jahrelang bekämpft hatte, sah Rabin ein, dass sie der einzige Ansprechpartner war, der zählte. »Es wäre lächerlich gewesen, weiter nur durch Vermittler mit ihnen zu kommunizieren«, meinte Rabin damals. Gleiches gilt heute für die Hamas. Sie sind nun einmal da. Sie werden nicht verschwinden. Lächerlich, dass israelische Vermittler in einem Zimmer der ägyptischen Geheimdienstzentrale bei Kairo sitzen und mit den Hamas-Vertretern in einem anderen Zimmer desselben Gebäudes nur über ägyptische Drittmänner kommunizieren, die für sie zwischen den Korridoren hin- und herpendeln.

Und noch eine Schlussfolgerung: Bemüht euch gleichzeitig um Frieden. Aufrichtig. Rettet Abbas. Vorerst gibt es keinen Vertreter für ihn. Gebt ihm ein unmittelbar vorzeigbares Erfolgserlebnis, um Hamas damit etwas entgegenstellen zu können. Stimmt dem Antrag der Palästinenser an die Vereinten Nationen zu, das Staatenrecht anerkannt zu bekommen. Sucht den Frieden mit allen Palästinensern, Fatah und Hamas, so dass wir der Gewalt wirklich ein Ende setzen können.

Ein für alle Mal!

Übersetzung aus dem Englischen Mattes Standke

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