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Spiel der Superlative

Normal geht im Fußball nicht mehr: üble Wutreden, unfassbare Aufsteiger und überall Gewalt - eine Bilanz

Ganz am Ende ist auch noch Manfred Amerell gestorben. Für großen medialen Auftrieb hat diese Nachricht nicht mehr gesorgt. Sei es, weil das Schicksal des ehemaligen Referees schon im Jahr zuvor breit verhandelt wurde. Sei es, weil wir Journalisten 2012 schon so viel Erregung in unsere Texte gepresst hatten, dass am Schluss nichts mehr an Emotion übrig blieb. Pulver verschossen. Zum Beispiel für die angebliche »Wutrede« des Stuttgarter Trainers. Bruno Labbadia hatte sich dabei zwar in Rage geredet, war aber sachlich und leise geblieben. Wenn das schon eine »Wutrede« ist ....

Aber wir Journalisten bewegen uns ja nicht in einem luftleeren Raum, sondern in einer Branche, die die gängigen Steigerungsformen »groß«, »größer«, »am größten« kaum noch kennt, weil sie nur noch mit dem Superlativ herumhantiert. Trainer kündigen den kommenden Gegner mindestens als »wahnsinnig gut organisiert« und überhaupt »unfassbar stark« an - und wenn es der FC Augsburg ist. Kein Wunder, dass die Spieler in dieser Saison konsequenterweise gleich dazu übergingen, sich selbst Komplimente zu machen: »Hut ab vor meiner Mannschaft.« Wer so etwas sagt, wünscht sich auch jeden Morgen beim Blick in den Spiegel einen schönen Tag.

War sonst noch was? Die »Sicherheitsdebatte« natürlich, die uns das ganze Jahr 2012 über begleitet hat. Wer derzeit, im Dezember 2012, bei einem dieser Weihnachtskranztreffen bei Kaffee und Plätzchen die Zeit totschlägt, redet zuweilen mit wildfremden Menschen über Fußball. Und ist dann bass erstaunt, dass es doch tatsächlich Leute gibt, die seit einigen Monaten nicht mehr ins Stadion gehen, weil es dort angeblich so gefährlich sei. Beglückwünscht werden sie zu diesem Entschluss von sehr vielen sehr alten Menschen, die sowieso der Meinung sind, dass das Leben vor der eigenen Wohnungstür aus Mord und Totschlag besteht und Hartz-IV-Empfänger die eigentlich Privilegierten sind. Lesen bildet eben nicht immer. Aber was ist eigentlich schlimmer? BILD und Konsorten, oder alle die, die meinen, die von den Genannten erzeugten Stimmungen aufgreifen zu müssen?

Bengalische Feuer kann man schön oder überflüssig finden. Verboten sind sie im Stadion allemal. Aber mit »Gewalt« haben sie nichts zu tun. Und wenn tausende Düsseldorfer Normalo-Fans auf den Platz rennen, weil sie das Spiel für beendet halten, mag das dumm sein, mit »Randale« hat es genau so wenig zu tun wie es eine »konspirative« Anreise ist, wenn 500 Schalke-Ultras sich an der Dortmunder Universität treffen, um von dort aus zum Signal-Iduna-Park zu laufen.

Ein Bekenntnis in eigener Sache: Ich bin 41 Jahre alt und war schon in den Achtzigern im Stadion - lange also, bevor mich das Schicksal auf die Pressetribüne spülte. Immer wieder bin ich »konspirativ« angereist (mit Freunden in der Straßenbahn) und ein paarmal habe ich mich sogar eines Platzsturmes schuldig gemacht. Schon als 16-Jähriger, nicht weiter verhaltensauffälliger Gymnasiast, wie ich noch heute meinen würde. In den 80ern und 90ern, als es noch drei Fernsehprogramme und den immergleichen »Mandel-dä-Geschichte«-Kanzler gab, rannten nach jedem letzten Heimspiel der Saison ein paar Tausend Fans auf den Platz und trugen »ihre« Spieler ein paar Meter herum. Die lachten und verschenkten zum Dank ihre Trikots. Alles also in etwa so wie im Mai in Düsseldorf, nur dass in den seligen Neunzigern niemand auf die Idee gekommen wäre, aus solch harmlosen Vergnügungen mediale Skandale zu destillieren. Warum auch? Die Vereine wussten, dass es so kommen würde, ließen die Tore zum Innenraum öffnen und freuten sich über die allgemeine Feierstimmung.

Vergangene Zeiten, nicht nur im Fußball. Zeiten, in denen das Rauchen von Zigaretten noch nicht als Verbrechen am Mitmenschen galt. Wer sich heute an einem zugigen, unüberdachten S-Bahn-Gleis eine Kippe ansteckt, muss (mindestens!) mit bösen Blicken grüner und schwarzer Spießer rechnen, wer bei der Aufstiegsfreude den von den Sicherheitsfachleuten eingehegten Raum verlässt, ruft damit einen bundesweiten »Sicherheitsgipfel« ein.

Man braucht heute wirklich keinen Diktator mehr, unserer Freiheit berauben wir uns ganz freiwillig.

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