Willkommen im AWO-Dorf

Teil 6 der nd-Serie: Landflucht / Kemlitz kämpft gegen demografischen Wandel und fehlende Perspektiven

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 5 Min.
Während in Deutschland Debatten um wachsende Metropolen und Gentrifizierung in Großstädten toben, geraten Dörfer immer stärker ins Hintertreffen. Manche Ortschaften versuchen, mit bescheidenen Mitteln ein Aussterben zu verhindern. Kemlitz im Landkreis Teltow-Fläming in Brandenburg kämpft gegen die schleichende Abwanderung.
Altes Gutshaus im Dornröschenschlaf.
Altes Gutshaus im Dornröschenschlaf.

Reisende auf der Bundesstraße 102 zwischen Luckau und Dahme/Mark könnten Kemlitz beinahe übersehen. Entlang der Straßen liegen einige landwirtschaftliche Gebäude, die Silhouette des Horizonts wird durch Dutzende Windräder dominiert. Von der Ortschaft selbst bekommen Durchfahrende auf der Bundesstraße wenig zu sehen. Aus Richtung Luckau kommend, begrüßt Reisende linkerhand ein leerstehendes Einfamilienhaus. Das Klingelschild fehlt, doch ein Blick über den rostigen Gartenzaun des Grundstücks verrät, dass es sich die früheren Bewohner hier einst gemütlich gemacht hatten. Im Garten blättert die Farbe von einer Laube.

Landflucht

Man kennt diese Szenerie aus Hollywoodfilmen, die irgendwo im Mittleren Westen der USA spielen. Eine nicht enden wollende Asphaltstraße führt kerzengerade kilometerweit durch unbewohnte Natur. Hin und wieder streift der Asphalt einen kleinen Flecken menschlicher Zivilisation. Doch die Straße ist im Grunde zu einer Transitstrecke von einer größeren Stadt zur nächsten verkommen. Reisende lassen die Ortschaften links und rechts der Hauptstraße liegen.

Dabei ignorieren sie die Dörfer und die alltäglichen Probleme derjenigen Menschen, die ein Leben auf dem Land führen. Was im Film häufig nach ländlicher Naturidylle klingt, bedeutet in der Realität einen schleichenden Prozess, der im schlimmsten Fall mit dem kompletten Verschwinden eines Dorfes von der Landkarte enden kann.

 

Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite befindet sich ein für unwissende Augen leerstehender Gasthof. Die blaue Holztür ist verrammelt, der Gastwirt befindet sich gerade für drei Wochen im Urlaub, wie auf einem handgeschriebenen Zettel im Fenster zu lesen ist. Wie es drinnen aussieht, kann deshalb nur gemutmaßt werden. Die gehäkelten weißen Gardinen und das Schild einer ostdeutschen Brauerei aus dem Vogtland geben jedoch vorsichtige Hinweise darauf, dass die Einrichtung nichts mit einem angesagten Szenelokal aus der Großstadt gemein haben dürfte.

Schulklassen aus Berlin bevölkern den Gutshof

Zunächst erscheinen ein funktionstüchtiger Zigarettenautomat und ein rostiger, aber dennoch frisch befüllter, gelber Kaugummiautomat als die deutlichsten Zeichen für ein existierendes Dorfleben. Woher die potenziellen Abnehmer für Erdbeer-Bananen-Kaugummi zu je 20 Cent das Stück kommen, bleibt allerdings zunächst ein Rätsel. Auskunft über mögliche Naschkatzen im Dorf könnte vielleicht Ingrid Babing geben. Seit drei Jahren betreibt sie dienstags und donnerstags für einige Stunden einen Hofladen, der zu einem von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) übernommenen Gutshof gehört. »Eigentlich lohnt sich das Geschäft nicht«, verrät Babing, die normalerweise in der Geschäftsverwaltung arbeitet und den Hofladen seit drei Jahren nur nebenbei betreut. Von Flaute ist im Moment allerdings kaum etwas zu spüren. Im kleinen Laden herrscht reges Gedränge. Im Minutentakt strömen Mädchen und Jungen der vierten Klasse der Arnold-Zweig-Schule aus Berlin-Pankow in den kleinen Verkaufsraum. Kinder aus der Hauptstadt sind oft auf dem Gutshof, um Landluft zu schnuppern.

Die Schüler sind für eine Woche auf Klassenfahrt auf dem Gut Kemlitz. »Am besten laufen Süßigkeiten«, verrät Babing. Ihre Hände greifen in eine Plastikschale voll mit Kaubonbons und Gummitieren. Sie kommt mit dem Abzählen der Süßigkeiten kaum hinterher, weshalb sich vor dem Verkaufstresen eine Schlange bildet.

Spreewälder und Süßes aus dem Hofladen

Was nicht nach Zucker schmeckt oder kaum zur Nascherei zwischendurch taugt, wird von den Kindern keines Blickes gewürdigt. Dabei bietet der Hofladen vieles, was zumindest den täglichen Bedarf abdeckt. Spreewaldgurken und Kartoffeln gehören genauso zum überschaubaren Sortiment wie die handgemachte Marmelade der Kemlitzer AWO-Senioren- gruppe. Anders als in den schicken Delikatessengeschäften in den Szenekiezen von Berlin bekommt man den fruchtigen Brotaufstrich der rüstigen Landbewohner für günstige zwei Euro das Glas. Für größere Einkäufe oder einen Arztbesuch müssen die Kemlitzer allerdings entweder nach Dahme oder Luckau fahren. Einzelhandel und Mediziner verirren sich schließlich nie in eine Ortschaft mit nicht einmal mehr 300 Menschen. Dabei lebten zu DDR-Zeiten doppelt so viele Einwohner im Ort.

Wer über kein Auto verfügt, ist auf die einzige Bushaltestelle im Dorf angewiesen. Erledigungen sollten jedoch genau geplant sein: Wochentags hält der letzte Bus Richtung Luckau um kurz vor sieben, am Wochenende fährt der Linienverkehr nur alle zwei Stunden. Im Vergleich zu anderen kleinen Ortschaften in Brandenburg herrschen beim Kemlitzer Nahverkehr beinahe noch paradiesische Zustände. In vielen Dörfern haben Rufbusse den regelmäßigen Linienbetrieb längst abgelöst. Der Bedarf ist zu gering, das Vorhalten von öffentlicher Infrastruktur für immer weniger Leute zu teuer.

Für die gesamte Region ist die Entwicklung dramatisch: Laut aktuellen Prognosen verliert das Land Brandenburg bis zum Jahr 2020 etwa 20 Prozent seiner Einwohner. In manchen Landkreisen mehr, in manchen weniger, was nicht zuletzt davon abhängt, inwieweit ein Ort von der Nähe zum Berliner Speckgürtel profitiert. In der Fläche ist der demografische Wandel längst kein Zukunftsszenario mehr. So ist jeder dritte Einwohner im Amtsbereich Dahme, zu dem auch Kemlitz gehört, älter als 60 Jahre. Überalterung und Wegzug in die Ballungsgebiete ergeben zusammen eine gefährliche Mischung. Das private Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung sorgte 2007 für Aufregung, als es in einer Expertise für die Landesregierung die Möglichkeit zur gezielten Entsiedelung einzelner Regionen als Lösungsansatz präsentierte. In der Bevölkerung sorgte dieser Vorschlag allerdings für laute Proteste.

Wohlfahrt sichert Arbeitsplätze im Dorf

Auch in Kemlitz sind vor allem die Alten geblieben. Nicht zuletzt liegt dies an der von der AWO betriebenen sozialtherapeutischen Wohnstätte. Vieles, was im Dorf passiert, wäre ohne die Unterstützung der Arbeiterwohlfahrt wohl kaum denkbar. Ein Teich direkt hinter dem Gut wurde 2004 durch den Verband saniert. Etwa 40 Arbeitsplätze sichert der Verein im Dorf. Neben dem Seniorenheim beschäftigt die Wohlfahrt Menschen in der Landwirtschaft und auf dem Ferienhof. Die notwendige Grundstücke samt Rittergut kaufte die AWO der Treuhand ab, als diese den Volkseigenen Gutshof Anfang der 90er Jahre abwickelte. Gäbe es den Wohlfahrtsverband nicht, gingen in Kemlitz mit großer Sicherheit die Lichter aus.

Dabei ist die AWO mit ihren Plänen noch längst nicht am Ende, wie Mitarbeiterin Katrin Frank verrät. Auf dem Gelände, zwischen Kuhstall und Ferienunterkunft, hält das alte Gutshaus seit dem Mauerfall einen tiefen Dornröschenschlaf. Für die Renovierung des in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstandenen Barockbaus fehlt das nötige Geld. »Die Pläne für den Umbau liegen bereits in der Schublade«, erzählt Frank. Zu DDR-Zeiten waren im Gutshaus Wohnungen und ein Kindergarten untergebracht.

So dümpelt das herrschaftliche Anwesen, wie so viele Immobilien im Dorf, einsam vor sich hin. Was nicht heißt, dass der Ort keine Anziehungskraft für Touristen und Naturliebhaber besäße. Entlang der alten Dorfstraße, die Parallel zur B 102 verläuft, befindet sich eine im 19. Jahrhundert errichtete Backsteinkirche. Das Dorf ist über 600 Jahre älter. Touristen lockt die seit 2009 bestehende Flaeming-Skate mit 200 Kilometern Rad- und Skatewegen quer durch Wälder, Wiesen und Felder. Touristen und damit mehr Leben könnten Kemlitz eine Perspektive bieten.

Ingrid Babing hinter der Theke des Hofladens
Ingrid Babing hinter der Theke des Hofladens
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