»Woran erkennt man einen Juden?«

Das Jüdische Museum stellt sich den Fragen seiner Besucher

Es kommt wohl relativ selten vor, dass Kuratorinnen Gegenstand ihrer Ausstellung werden. Im Jüdischen Museum ist aber gerade das lebendige Anschauungsobjekt ausgefallen und deshalb muss sie, Michal Friedlander, einspringen. Täglich, außer am Sabbat, sitzt hier normalerweise ein anderer Jude oder eine Jüdin für ein paar Stunden in einem Glaskasten. Auf dem Podest unter ihm steht die Frage: »Gibt es noch Juden in Deutschland?« Die Vitrine ist nach vorn hin geöffnet, Besucher können Fragen zu allem stellen, was sie interessiert - wenn sie sich denn trauen. Es gibt in der Ausstellung »Die ganze Wahrheit ...was Sie schon immer über Juden wissen wollten« keine Tabus und eins vorweg: auch keine klaren Antworten.

Es geht vor allem um Perspektiven, das Wechselspiel zwischen Besucher und Gezeigtem, um Assoziationsketten, die die Texte, Zitate und Exponate hervorrufen. Niemand soll Angst davor haben, seine Frage würde mehr über ihn aussagen, als die Antwort Klarheit schafft. Die Ausstellung gibt dem Betrachter die Möglichkeit, ja zwingt ihn dazu, er selbst zu sein in all seiner Neugier und Unwissenheit. Jede noch so naive wie doofe Frage ist erlaubt. »Darf ich sie mal anfassen, ich bin noch nie einem Juden begegnet?«, hat mal einer gefragt, erzählt Friedlander. Knapp 100 000 Juden leben in Deutschland, die wenigsten »Gojim« dürften einen kennen. Mit der Schau treibt das Museum eine kuriose Kritik auf die Spitze, mit der viele jüdische Museen auf der Welt konfrontiert wurden: Sie würden die Juden und ihre Geschichte dem Voyeurismus preisgeben.

Michal Friedlander hat mit zwei Kolleginnen die Ausstellung konzipiert, die insgesamt 180 Exponate aus Religion, Alltag, Kunst oder innerjüdische Identitätsdebatten thematisieren. 30 Fragen werden aufgeworfen. Sie sind die Essenzen aus all den Berührungsängsten gegenüber dem Judentum, die sich aus 800 Gästebüchern, Facebook-Kommentaren, Foren und Erfahrungen der Museumsmitarbeiter destillieren ließen. »Darf man über den Holocaust Witze machen?«, »Woran erkennt man einen Juden?«, »Kann man aufhören, Jude zu sein?« Die zu den Fragen gehörenden Ausstellungsstücke befinden sich in trichterförmigen pinken Boxen. So wie es hereinfragt, so schallt es wieder heraus. Die Ausstellung will kein Grundkurs über das Judentum sein, keine der Fragen kann man mit Hilfe von Google innerhalb von 0,29 Sekunden beantworten.

Die Ausstellung ist angelehnt an eine ähnliche, die bereits letztes Jahr im jüdischen Museum Hohenems in Österreich zu sehen war. Aus dieser Ausstellung ist auch eines der eindrücklichsten Stücke entliehen. Die Frage »Darf man «Jude» sagen?«, gibt die Ausstellung, wie so oft, an den Besucher zurück. Er soll das Wort in ein Mikrofon sprechen. Kommt es so zurück, wie man es gemeint hat?

Ein älterer Herr aus New York City hat sich inzwischen vor dem Glaskasten mit Friedlander darin aufgebaut und redet sich gerade in Rage. »Denken Sie, dass das der richtige Weg ist, wie Deutsche und Juden miteinander umgehen sollten?« Friedlander versucht es diplomatisch: »Es geht nicht um den richtigen oder falschen Weg, wir wollen, dass Menschen ins Gespräch kommen.« Er lässt nicht locker. »Wissen Sie, woran mich das Ganze hier erinnert? An den Eichmann-Prozess. Es ist eine Schande, dass sie Juden wie Zootiere ausstellen.« Der grauhaarige kleine Mann ist Lehrer, und selbst Jude. Gerade ist er in deutschen Schulen zu Gast, um mit Schülern über das Judentum und die deutsche Vergangenheit zu diskutieren. Seine Art und Weise Berührungspunkte zu schaffen, hält er für die bessere, das sagt er deutlich. »Hat denn sonst noch jemand eine Frage«, Friedlander blickt erwartungsvoll in die inzwischen gewachsene Menge der Schaulustigen. Der Disput ist damit beendet. Zwei sich über das Jüdisch-Sein streitende Juden, wo hat man das schon mal erlebt?

Natürlich provoziert die Ausstellung, denn sie schürft tief aus unseren Ressentiments und ewigen Wunden. Sie verweigert sich oft mittels ironischer Distanz einer eindeutigen Antwort oder gibt indirekt die Frage wieder an den Besucher zurück, weil es keine Antwort gibt oder weil die Fragen kein Ja oder Nein, so oder so zulassen. Darf ein Deutscher Israel kritisieren? Die Antwort darauf symbolisiert ein Maulkorb für Schäferhunde. »Lässt sich die Vergangenheit bewältigen?«, in der zur Frage gehörenden Vitrine stehen drei Flaschen des skandalträchtigen »Führerweins«, der letztes Jahr in einem italienischen Supermarkt entdeckt wurde.

An anderen Stellen bricht die Ausstellung mit ihrer Leichtigkeit und lässt keinen Interpretationsspielraum zu. »Kann man einen Schlussstrich unter den Holocaust ziehen?« steht auf einer der pinken Boxen, die gleichzeitig auch als Sitzbänke dienen. Auf ihr hat ein sehr alter Mann platz genommen, der wirkt, als hätte er alles hier schon gesehen. Im Gegensatz zu den anderen Besuchern, die mit aufgerissenen Augen durch die Räume laufen, diskutieren und lachen, sitzt er nur da, minutenlang und starrt ins Leere. Wer ihn beobachtet, sieht, was er sieht, denkt, was er denkt. Er weiß nicht, dass er gerade selbst zum Exponat wird. Hinter ihm hängt ein Bild aus dem Jahr 2010, aufgenommen in Netanya, Israel. Es zeigt Rina, 78 und Herbert 86 Jahre an ihrem Esstisch, über ihnen hängt ein Foto, auf dem das Eingangstor von Auschwitz zu sehen ist.

Viel Zeit, einen Gemütszustand aushalten, bleibt nicht. Schon im nächsten Raum geht es um Witze über den Holocaust. Und ein Tabu gibt es dann doch: Witze über den Holocaust sind eine innerjüdische Angelegenheit. Sketche aus amerikanischen und deutschen TV-Sendungen von jüdischen Komikern wie Sarah Silverman, Larry David oder Oliver Polak sind zu sehen. In der US-Serie »Curb Your Enthusiasm« (Lass es, Larry!) streitet ein Teilnehmer einer Abenteuershow, der sich durch den australischen Busch gekämpft hat mit einem Shoa-Überlebenden darum, wer die härteren Qualen durchlitten hat. Das geht über die Grenzen des Sagbaren hinaus. Darf ich lachen? Gleiches denkt man beim Comic des irischen Künstlers Dave McElfatrick, das vielleicht mit Absicht etwas versteckt hinter einer der rosa Boxen hängt. Zwei Menschen lernen sich in einem Konzentrationslager kennen. Er möchte seiner neuen Freundin seine Telefonnummer auf das Handgelenk schreiben. »Oh Mist, da ist ja gar kein Platz mehr«, sagt er.

Die meisten Diskussionen aber lösen fünf der rosafarbenen Boxen, die mit den Worten »Juden sind besonders... « überschrieben sind. Die Besucher können mittel Plastikchips abstimmen, welches der aufgezählten Attribute auf Juden am ehesten zutrifft. Die meisten Münzen liegen in dem Behälter auf dem steht Juden seien vor allem »intelligent«, dahinter »geschäftstüchtig« und »einflussreich«, am wenigsten sind sie tierlieb. Tierlieb? Wohl ein Versuch, die Besucher zu irritieren, als würde alles stimmen, was auf den Boxen steht. Das Exponat polarisiert, das verrät die Post-it-Zettelwand am Ende des Rundgangs. Die Plastikmünzen, die aus Protest nicht eingeworfen werden, zählt das Museum nicht.

Was bleibt, ist das Gefühl, an einem Speeddating mit dem Judentum teilgenommen zu haben. Mit jedem Wechsel zu einer anderen Station lernt man das Gegenüber besser kennen, vor allem aber sich selbst.

»Die ganze Wahrheit«, Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin, Lindenstraße 9-14, 10969 Berlin, Tel.: (030) 25 99 33 00, bis 1.9.

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