Lebensräume - Erinnerungsorte

Beinahe acht Jahrzehnte lang lebt Norbert Schneider in ein und derselben Wohnung. Jetzt verfällt das Haus

  • Anke Engelmann, Erfurt
  • Lesedauer: 7 Min.
Am Rand der Krämpfervorstadt, hinter einem Wohngebiet, ist die Stadt zu Ende: Industriebrachen und leerstehende Karrees, als hätte man die Häuser vergessen und ihre Bewohner gleich mit. Norbert Schneider merkt man seine 81 Jahre nicht an, dem Haus, in dem er lebt, schon.

Der Stadtrand liegt in Erfurt nicht weit vom Zentrum. Am Rand der Krämpfervorstadt, hinter einem Wohngebiet, ist die Stadt zu Ende: Industriebrachen und leerstehende Karrees, als hätte man die Häuser vergessen und ihre Bewohner gleich mit. Hier liegt die Grolmannstraße, neun Gebäude, grau in grau wie alte Zähne. Von Fassaden bröckelt der Putz und von den Fenstern und den einfachen Holztüren die Farbe. An bessere Zeiten erinnern kleine Vorgärten hinter einer hüfthohen Mauer. Wohnungen, Etagen, ganze Häuser stehen hier leer. Seit langem.

Norbert Schneider, der die Tür zur Parterrewohnung im Eckhaus Nummer 9 öffnet, merkt man seine 81 Jahre nicht an. Schlank ist er, fast hager, er wägt seine Worte und wirkt zurückhaltend mit seiner bedächtigen Art. Für das Gespräch hat sich der frühere Ingenieur Fotoalben bereitgelegt, Korrespondenzen, Unterlagen, Mietverträge. Von der Wohnung will er erzählen, die seit fast acht Jahrzehnten sein Zuhause ist. Davon, wie seine Familie hier gelebt und die sich wandelnden Zeiten erlebt hat. Vier Generationen in vier Zimmern: die Großeltern, die Mutter, er selbst mit Ehefrau Charlotte, die Kinder, und nach dem Krieg die Umsiedlerin Frau Löwe. Auf engstem Raum, ohne sich aus den Weg gehen zu können. Kann das gut gehen?

Es musste. Und ging sogar sehr gut. Ein Mehr-Generationen-Projekt, von dem alle Beteiligten etwas hatten: Als Norbert Schneider klein war, boten die Großeltern ihm und seiner früh verwitweten Mutter Sicherheit und Unterstützung. Die Mutter wiederum nahm später seine Kinder - ihre Enkel - unter die Fittiche. Und die Jungen kümmerten sich um die Alten, ganz selbstverständlich, weil das eben so war damals. Konflikte? »Wir haben uns schon gut verstanden«, sagt Schneider. Nur manchmal habe einfach der Abstand gefehlt, dass man zum Nachdenken kommt und miteinander spricht.

Ein Rundgang durch die Wohnung, vier Zimmer, Küche, Bad. »Jeder Raum hat eine Geschichte«, sagt Schneider. Der Großvater, der in der Küche an der Tür zum früheren Balkon seinen Stammplatz hatte. 1944 ist er in der Wohnung gestorben, im heutigen Arbeitszimmer. Frau Löwe, eine bescheidene Frau aus Dresden, die in den letzten Kriegstagen einquartiert wurde und schnell zur Familie gehörte. 1962 starb sie im gleichen Raum, gefunden hat sie Schneiders Ehefrau Charlotte, die 1955 in den Schneider-Bau gezogen war. Leben verging, Leben begann: Im Rahmen der Küchentür hing die Schaukel für die Kinder Christian und Susanne, später haben die Enkel mit ihr gespielt.

Das Arrangement hielt, auch als Schneider längst eine eigene Familie gegründet hatte und erfolgreich als Ingenieur arbeitete. Die Wohnung verlassen, woanders hingehen? Gedacht habe er schon daran, sagt er. Als ihn ein Kraftwerk in der Lausitz abwerben wollte, ein Angebot machte, das beruflich und vom Gehalt her sehr attraktiv war. Doch wohin mit der Mutter - diese Frage konnte er nicht lösen. Seine Ablehnung habe er nie bereut.

Und die Mutter? Loszulassen fiel ihr schwer. Immer habe sie betont, was sie durchgemacht, worauf sie verzichtet habe. Immer blieb er das Einzelkind, bezeichnet sich als Spätentwickler. »Ich dachte: Du kannst doch deine Mutter nicht allein lassen«, Norbert Schneider hebt entschuldigend die Hände. 30 Jahre lang lebte das Ehepaar mit der Mutter unter einem Dach, dann ging sie ins Altersheim. Fast hundert Jahre alt ist sie geworden. In ihr Zimmer zog die Tochter ein.

Schneiders haben sich modern eingerichtet, zu DDR-Zeiten eine Heizung eingebaut und in den Neunzigern das Bad modernisiert. Doch einfach ist das Leben nicht in dem beinahe leerstehenden Haus - vor allem im Winter. Die Eingangstür ist dick gepolstert, ein dicker Vorhang schützt vor Zugluft, die Teppiche auf dem Boden vor kalten Füßen. Vom Küchenfenster aus sieht man die Treppe zum Waschhaus, das versperrt ist, und die vernagelten Fenster der Wohnungen in den Nachbarhäusern. Über den grasbewachsenen Hof mit seinen Wäscheständern und dem wilden Holunder eröffnet sich ein spektakulärer Blick auf die leeren Fensterhöhlen einer Ruine: das Textilkontor, ein Großhandelslager mit der neoklassizistischen Fassade eines Spukschlosses.

Aus Gesprächen mit Nachbarn und aus eigener Beobachtung wissen die Schneiders, dass die Wohnungen in der Grolmannstraße nicht neu vermietet werden. Was der Eigentümer, die Kommunale Wohnungsgesellschaft (KoWo), mit dem Block vorhat, wissen sie nicht. Das gesamte Ensemble steht unter Denkmalsschutz, ein Kleinod, Ende der zwanziger Jahre in Bauhaus-Tradition errichtet. Doch Stadt und KoWo haben kein Geld, und kaufen will die Gebäude niemand. Der Denkmalsschutz macht eine Sanierung teuer, schreckt mögliche Investoren und Käufer ab. Der »derzeitige Bauzustand« sei tatsächlich »nicht zufriedenstellend«, räumte die KoWo 2006 in einem Brief an Schneiders ein. Und versprach, allen Mietern »möglichst bis Anfang 2007« eine Information über »Sanierung oder Verkauf« zu geben. Seitdem: Funkstille. Amtliches Nichtstun, kalkulierter Verfall.

Es schmerzt, wenn das Vertraute verkommt. Doch mehr noch: Was wird aus Schneiders, wenn sie die Wohnung nicht mehr selbst sauber halten, den Alltag nicht mehr allein bewältigen können? Diese Fragen sind da, unbeantwortet. Weggeschoben, immer wieder, sagt Schneider. Und die »Randerscheinungen«, wie er sie nennt, mehren sich: Radfahren geht nicht mehr, das Schneiden der Zehennägel wird zum Problem, das Abnehmen und Aufhängen der Gardinen. Zwar kommen die Kinder, sooft sie können, und die Ex-Schwiegertochter wohnt mit den Enkeln im selben Haus. Trotzdem. »Uns kommt schon der Gedanke, dass wir uns allmählich verabschieden müssen«, sagt Schneider. »Das hängt wie ein Damoklesschwert über uns.«

Immer mehr Einschränkungen schleichen sich in den Alltag. Abschiede. Verluste. Manche schmerzen, wie der von den Fahrrädern, mit denen die Schneiders sich seit 1983, als sie ihr Auto verkauften, die Welt erfahren haben, und die Schneider mit Tränen in den Augen weggegeben hat. Anderes schläft nach und nach ein. Weil die Wege zu weit werden. Weil der Körper nicht mehr so mitmacht. Weil Bezugspersonen weggehen. Mit 81 Jahren hat man nicht mehr viel Zukunft vor sich. Wenn der Weg nach vorn sich nicht mehr unendlich dehnt, blickt man stärker zurück.

Schneider war immer aktiv. Ein engagierter Mann, der auch für die Stadt viel getan hat. Für seinen Einsatz für den Erinnerungsort »Topf und Söhne« erhielt er im letzten Jahr sogar eine Auszeichnung. Schneider kramt die silberne Medaille hervor, lächelt. »Das war vielleicht auch so eine Art Abschiedsgeschenk«, sagt er. Angefangen jedoch hat das 1947, als der damals Sechzehnjährige in dem Erfurter Unternehmen »Topf und Söhne« eine Lehre als Maschinenbauzeichner aufnahm. Dass das Unternehmen in den Holocaust verstrickt war, die Öfen für die Krematorien der Konzentrationslager baute, war bekannt, wurde jedoch im Betrieb heruntergespielt und in der Öffentlichkeit nicht thematisiert, erzählt er. Das geschah erst 1999, bei einer Podiumsveranstaltung. Danach sei er, zum ersten Mal nach fast 50 Jahren, zum früheren Betriebsgelände marschiert und habe sich dort umgesehen. Ein bewegendes Erlebnis. Erinnerungen, Meter für Meter. Das Geschäftshaus, der Konstruktionssaal, in dem er gearbeitet habe - alles war noch da, von Zerstörung und Vandalismus gezeichnet. »Da saß Habel. Dort Erdmann. Und an einem der Zeichenbretter habe ich gearbeitet.«

Die Begegnung mit dem Ort habe ihn »förmlich reingezogen«. Schneider nahm Verbindung zum Förderkreis auf, arbeitete ab 2000 aktiv mit und saß seit 2008, als sich der Verein »Förderkreis Erinnerungsort Topf und Söhne« gründete, als Beisitzer im Vorstand. Unter den Geisteswissenschaftlern im Verein - Historikern, Philosophen, Theologen - war er der Techniker, der Ingenieur. Konnte erklären, technische Einzelheiten erläutern und hat auch selbst viel gelernt. Ein Erinnerungsort sollte entstehen, der die Beteiligung scheinbar ganz normaler Menschen am Unfassbaren, am Völkermord, zeigt. Das Konzept »Erinnerungsorte« geht davon aus, dass Orte, aber auch Kunstwerke oder Ereignisse symbolische Bedeutung erlangen und beispielhaft für das Lebensgefühl einer Zeit stehen können.

2011 hat der Verein sein Ziel erreicht, und auf dem ehemaligen Firmengelände eröffnete der Erinnerungsort. Ein langer Atem war nötig, viel ist passiert. Schneider ist inzwischen aus dem Vorstand ausgeschieden. Aus Altersgründen. Zu den Vorstandssitzungen geht er »nicht mehr so regelmäßig«. Und wenn er spontan den Erinnerungsort besucht, kann es passieren, dass niemand da ist, den er kennt. Und so nimmt er den Weg nicht mehr oft auf sich.

In seinem Arbeitszimmer bewahrt Norbert Schneider Aktenordner mit Erinnerungen: Bilder von Reisen, Ordner mit Ankündigungen von Veranstaltungen, Flyern, Broschüren - ein ganzes Fach im Regal, alles säuberlich beschriftet. An den Wänden Fotos, die an Reisen erinnern, Plakate. »Topf und Söhne« steht auf dem Ordner, den Schneider, ohne hinzublicken, greift und herauszieht. »Topf und Söhne« - ein Ort für die kollektive Erinnerung. Ist die Wohnung in der Grolmannstraße Schneiders ganz persönlicher Erinnerungsort? Ein Symbol für seine Lebensgeschichte? Schneider lacht auf. Wird nachdenklich. »Ja«, sagt er schließlich. »Das ist ganz sicher so.«

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