Die Zwangsernährten grüßen euch

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 8 Min.
Seit Wochen befinden sich viele Guantanamo-Häftlinge im Hungerstreik. Die Situation entfacht neue Diskussionen um das US-amerikanische Gefangenenlager auf Kuba. Ab Donnerstag erzählt der Film »Fünf Jahre Leben« vom Martyrium des Deutsch-Türken Murat Kurnaz an diesem rechtlosen Ort.

Die Tür zum Interviewraum knarrt wie in einem Spukschloss. »Hier könnte man auch einen Horrorfilm drehen«, scherzt Murat Kurnaz. Der in Bremen geborene und aufgewachsene Sohn türkischer Einwanderer hat seinen Humor nicht verloren. Das ist nicht selbstverständlich. Der heute 31-Jährige war 2001 mit nur 19 Jahren von der US-Armee aus Pakistan ins afghanische Kandahar verschleppt worden. Anschließend wurde er im US-Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba fünf Jahre lang ohne Anklage festgehalten, verhört und gefoltert. Das war der echte Horror, kein Film. Nun hat Regisseur Stefan Schaller Kurnaz' Leidensweg für die Leinwand verarbeitet. »Fünf Jahre Leben« startet an diesem Donnerstag in den Kinos.

Es ist ein so harter, wie empfehlenswerter Film, der den Horror abbildet, ohne sich zum Horrorfilm zu degradieren. Das Gezeigte - die Ungewissheit, die Isolation, die körperlichen Schmerzen der Folter - geht an die Grenze des Erträglichen. Kurnaz dagegen findet es längst nicht hart genug. Er habe sich beschwert: »Das wird ja ein Kinderfilm.« Aber schließlich sah er ein, dass das, was Regisseur Schaller auswählte zu zeigen, eben noch gerade das ist, was die Menschen bereit sind zu ertragen. Auch wenn es - verglichen mit der Realität - »ein Witz« sei, so Kurnaz. »Aber auch wenn viele Folterszenen bewusst nicht gezeigt werden, es wird immerhin davon erzählt. Insofern ist der Film nicht verharmlosend.«

Auch ist Kurnaz froh, »dass endlich eines dieser Projekte auch tatsächlich fertig wurde«. Viele Pläne und Konzepte habe es zu seiner Geschichte gegeben, sogar Angebote aus Hollywood wurden ihm gemacht. Viel Geld hätte er da machen können, sagt er. Aber: »Einen normalen Spielfilm mit einer amerikanischen Sicht der Dinge wollte ich einfach nicht.« Wer wollte ihm das verdenken? »Ich glaube, dass auch in Hollywood viele Menschen gegen Guantanamo und den ›Krieg gegen den Terror‹ eingestellt sind. Aber die meisten haben Angst, das auch laut zu sagen«, vermutet er.

»Fünf Jahre Leben« hat eine eigene Sicht der Dinge, verfällt aber weder in Folter-Voyeurismus noch in übertriebenen Antiamerikanismus. Und er erscheint zur rechten Zeit. Zum einen, da die Situation in der rechtsfreien Militärbasis momentan eskaliert: Seit Februar sind über hundert der verbliebenen knapp 170 Gefangenen im Hungerstreik, werden zum Teil nur durch Zwangsernährung am Leben erhalten.

Zum anderen, da mittlerweile der Gewöhnungsprozess an die tropische Strafkolonie abgeschlossen ist, sich auch niemand mehr an die Versprechen einer Schließung der entwürdigenden Drahtkäfige zu erinnern scheint. Roger Willemsen beklagte bereits 2006, Guantanamo werde nur noch »als eine Irritation, nicht als das Skandalon einer Demokratie« betrachtet. Selbst diese verbliebene Irritation ist mittlerweile dem Vergessen gewichen.

Ein Vergessen, dem sich zu widersetzen für Kurnaz Antrieb ist. Der gelernte Schiffbauer engagiert sich stark bei Amnesty International, ist mittlerweile Vortragsreisender in Sachen Erinnerungsarbeit. »Die Menschen leiden noch immer im Lager. Trotzdem: Wenn ich zum Beispiel in Universitäten Vorträge halte, denken viele Studenten, Guantanamo sei längst geschlossen«, staunt Kurnaz über die Verdrängungsprozesse westlicher Gesellschaften - wenn es um die Verbrechen des eigenen Kulturkreises geht. Politisch ist Kurnaz dementsprechend pessimistisch: »Der ›Krieg gegen den Terror‹ - das wird alles noch schlimmer.«

Das Erzählen, die Berichte von den jahrelang erduldeten Demütigungen, sie gehen Murat Kurnaz erstaunlich leicht von der Hand: »Das ist im Vergleich zum Erleben doch einfach.« Ob es für seine Familie nicht unerträglich ist, auf der Leinwand den Bruder oder Sohn als Jugendlichen verzweifelt und gequält in den Händen arroganter Folterknechte zu sehen, will er nicht beurteilen. »Das muss jeder selber entscheiden, ob er das aushält. Meine Mutter zum Beispiel stellt mir nie Fragen zu meiner Haft. Für sie wäre der Film wahrscheinlich hart, aber sie weiß ja, ich bin endlich wieder da. Das würde ein Trost sein.«

Der Film beruht auf dem Kurnaz-Buch »Fünf Jahre meines Lebens«, weitere Belege für die Authentizität des Gezeigten gibt es kaum. Aber die geschilderten, so brutalen wie bizarren Vorgänge decken sich mit zahlreichen anderen Zeugenberichten aus Guantanamo. Auch wurde noch kein Fakt aus Kurnaz' Buch widerlegt oder glaubhaft in Zweifel gezogen.

Als Kurnaz 2006 nach Deutschland zurückkehrte, da erlebte man in den Medien einen in sich gekehrten Versehrten - mit dem ungebändigten Bart- und Haarwuchs eines orthodoxen Patriarchen. Heute tritt einem ein gelöster, adretter, rasierter junger Mann mit Kurzhaarfrisur entgegen, der wieder verheiratet ist, zwei kleine Kinder hat und mitten im Leben zu stehen scheint. »Psychisch geht es mir gut. Ich habe auch keine Alpträume«, sagt er.

Kurnaz kann vor Kraft kaum laufen: extrem durchtrainiert, wie sie ist, erhält die untersetzte Erscheinung des mittlerweile intensiven Kampfsportlers etwas Gedrungenes. Aber auch Konzentriertes - als wollte er jede Faser seines Körpers mit Kraft vollpumpen. Um gewappnet zu sein? Vielleicht. Außer Frage steht jedenfalls, dass Kurnaz' robuste körperliche Verfassung und das jahrelange Boxtraining in der Jugend ihm in Guantanamo das Leben retteten. Seine Überlebensstrategie dort: Liegestütze und Religion. Die Chancen der nach jahrelanger Tortur weniger widerstandsfähigen aktuell Hungerstreikenden schätzt der gläubige Muslim in Interviews gering ein: »Einige werden das nicht überleben.«

Eigentlich könnte man in der momentanen Debatte darüber, wer die verbliebenen Häftlinge aufnehmen soll, darauf bestehen, dass die USA die Folgen ihres Handelns selber tragen. Das hieße jedoch, die Gefangenen dem Gutdünken eines US-Systems zu überlassen, das in Guantanamo höchstens ein ästhetisches Problem sieht. Gerade der Fall Kurnaz zeigt zudem, dass man auf dem Rücken der Malträtierten nicht pokern darf. Schließlich hätte Kurnaz bereits 2002 wieder nach Deutschland zurückkehren können - hätten sich deutsche Behörden nicht vehement gegen die Wiedereinreise des Verschleppten ausgesprochen. »Dafür hat sich bis heute niemand bei mir entschuldigt. Weder aus Deutschland noch USA. Frank-Walter Steinmeier sagt sogar, er würde wieder so handeln«, stellt Kurnaz nicht wütend, eher verwundert fest.

Steinmeier (SPD), damals Chef des Kanzleramts, spielte wohl eine besonders unrühmliche Rolle dabei, Kurnaz seine Menschenrechte zu verweigern. Bewerkstelligt wurde die vorsätzliche unterlassene Hilfeleistung durch den Hebel des Migrationsrechts. Er habe schließlich, seit er im Folterkeller sitzt, seine Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert, heißt es in einem so zynischen wie damals willkommenen Gutachten. Zudem sei Kurnaz zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen, sein Pass sei aber türkisch. Sollen ihn doch die Türken nehmen, einigte man sich kalten Herzens im Kanzleramt. »Wenn ich als Bademeister einen Ertrinkenden sehe, frage ich doch nicht: ›Bist du Deutscher oder Türke?‹«, urteilt Kurnaz heute abschätzig, aber wieder ohne spürbaren Hass über das Vorgehen.

Man fragt sich, wie Kurnaz sich gegenüber seinen Peinigern der Rachegefühle erwehrt. Wenn diese Haltung tatsächlich authentisch ist - und es gibt keinen Grund daran zu zweifeln - dann hat Kurnaz nicht nur die körperliche Konstitution, sondern auch die Gelassenheit und Großherzigkeit eines buddhistischen Mönchs erreicht.

Ähnlich nachsichtig wie gegenüber den politischen Verwerfungen der Deutschen und US-Amerikaner verhält sich Kurnaz gegenüber den deutschen Medien. »Bremer Taliban« - das war das sehr schnell gefällte Verdikt vor allem eines Boulevards, der ohne jede Skepsis die zweifelhaften Informationen über Kurnaz' angebliche Terrornähe auf die Titelseiten hob.

Dieser Tage sitzt Murat Kurnaz im Rahmen seiner Film-Promotion wahrscheinlich einigen seiner einstigen Rufmörder gegenüber - unter umgekehrten Vorzeichen: Aus dem Verleumdeten wurde eine moralische Instanz, in gleichem Maße, wie die Medien durch ihr Verhalten in seinem Fall an Integrität eingebüßt haben. Doch Kurnaz nimmt es locker: »Ich habe inzwischen gelernt, dass manche Menschen zwei Gesichter haben. Ich beantworte dennoch gerne ihre Fragen, schließlich mache ich die Interviews freiwillig.«

Ein Beispiel an medialer Zweigesichtigkeit bietet das Magazin »Der Spiegel«, das in seiner letzten Ausgabe auch Steinmeier an den Pranger stellt. Dabei war das Magazin beim spinnen der giftigen Terror-Legende mit dabei und bezeichnete Kurnaz noch 2004 als »Bremer Taliban« - jedoch ohne Anführungszeichen. So wurde nicht nur von der »Bild«-Zeitung ein Klima geschaffen, das einen Einsatz Steinmeiers für Kurnaz innenpolitisch zumindest heikel machte.

Hitze, Kälte, simuliertes Ertrinken, Schlafentzug, Schläge, Verhöre, monatelange totale Isolation, Lärm-, Licht- und Dunkel-Terror, Zwangsernährung, Fixierung in schmerzhaften Körperhaltungen, persönliche und religiöse Entwürdigung, wieder Ertrinken, wieder Schläge, wieder Verhöre ... Das in Film und Buch skizzierte System Guantanamo setzt nicht auf Nachforschung, sondern auf Zerstörung. Die Insassen sollen ohne jeden verbliebenen seelischen und körperlichen Halt in die Hölle gestoßen werden. Aus der können sie sich jederzeit, aber ausschließlich mit der Signatur eines Geständnisses, befreien - egal, ob sie nun Delinquenten sind oder nicht.

Das wurde Murat Kurnaz irgendwann klar: Hier geht es nicht um seine Schuld, sondern um die der Folterknechte. Mit einem Geständnis würden deren Verbrechen verblassen, oder zumindest rückwirkend einen absurden Sinn erhalten. Kurnaz hat die Unterschrift verweigert. Fünf qualvolle Jahre lang. Er hat den Triumph der Folter unter Einsatz seines Lebens und seiner psychischen Unversehrtheit verhindert. Das erhebt seine Geschichte über ein persönliches Drama hinaus. Es macht ihn zu einem modernen Helden.

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