Mit teuflischer Genauigkeit

Russisches Haus: »Verbrannte Dörfer - Gedenkorte in Belarus«

  • Christian Schneider Krawc
  • Lesedauer: 4 Min.

Per Fahrrad aus der Oberlausitz bis Berlin ist heute kein seltener Fall, auch nicht im Gespann Opa mit Enkel - er, der Zehnjährige vornweg, der ...-zigjährige immerfort hinterher. Mit der Karte auf der Lenkertasche, im Gewühl der großen Stadt, hat er die Orientierung verloren. Ich rufe: Pause! Er bleibt stehen. Friedrichstraße! Wir lehnen die Räder an eine Hauswand und merken: Es ist ein vornehmes Haus mit einer auffälligen Fassade. Wir lesen: Russisches Haus. Wieso Russisches Haus - wir sind doch in Berlin? Ich erkläre, er entgegnet: Da gehen wir doch mal hinein! Wenn sie uns in kurzen Hosen einlassen.

So verhalf der Zufall, die Ausstellung »Verbrannte Dörfer - Gedenkorte in Belarus« zu erleben. Ich konnte dem Jungen zu den Bildern und Dokumenten etwas erzählen. Ich war schon in Belorussland gewesen, als es noch keine Gedenkorte der verbrannten Dörfer gab. Wozu auch, wenn sie überall gegenwärtig waren - die übriggebliebenen Reste. Mit einer Familie in der Nähe von Minsk war es zum Briefwechsel gekommen. Ich bekam eine Einladung und fuhr hin, ins Dorf. Das war im März 1963. Die Mutter der Familie organisierte eine Maschina - einen LKW. Ich hatte nicht verstanden, wohin die winterliche Fahrt gehen sollte. Von der Hauptstraße in Richtung Lagojsk ging es rechts ab. Auf einem verschneiten Waldweg erreichten wir eine Lichtung. Der Fahrer hielt an. Aus dem Weiß der Schneefläche ragten verstreut schwarze Säulen empor. Das waren Schornsteine, an den Seiten Öfen zu erkennen.

Warum wir hierher gefahren waren: Hier waren die Eltern und Geschwister der Mutter umgekommen, als ihr Dorf von den Deutschen umstellt und alle Einwohner, von den Ältesten bis zum Säugling, in eine Scheune getrieben wurden. Die Scheune wurde angesteckt. Die Menschen versuchten auszubrechen. Wem es gelang, der lief in die Mpi-Salven der Eroberer. Ein Junge erreichte den Waldrand und entkam. Er war derjenige, der die Nachricht vom Massaker in den Nachbarort brachte. Am nächsten Morgen, als sich die Nachbarn ins abgebrannte Chatyn wagten, stießen sie auf einen Überlebenden. Er hatte unter seinem Sohn gelegen. Mit dem toten Jungen auf dem Arm kam er den Leuten entgegen ...

In den Tagen darauf brachte mich die Mutter meiner Gastgeberfamilie zu ihm, der im März 1943 das Massaker in Chatyn überlebt hatte, zu Jozef Kaminski, dem Dorfschmied. Er hatte seinem Sohn Adam, 15 Jahre, zugerufen, sich zwischen den Beinen der in die Scheune Gepferchten zum Scheunentor zu zwängen. Auch der Vater schaffte es, musste aber mit ansehen, wie Adam von Kugeln getroffen zusammenbrach. Der Vater nahm ihn auf seine Arme. Da bekam er mit dem Kolben einen Schlag auf den Kopf. In der Nacht erwachte er, unter seinem Sohn liegend. Jetzt, und das in Berlin, sehe ich die Beurkundung dessen, was vor 70 Jahren passiert war - und was ich vor 50 Jahren ebendort zu hören und zu sehen bekam. Wäre mein Enkel geradewegs zum Brandenburger Tor gefahren, wie ausgemacht, hätte er von Chatyn nichts erfahren. Er will zu jedem Foto die Geschichten erzählt bekommen. Auf einem Foto erkenne ich Kaminski. Auch ich habe zu Hause von ihm ein Foto. Doch wo? Ich werde es suchen,

Bei meinem Besuch damals in Belorussland hatte ich von den Verwandten der Mutter gehört, man bräuchte einen ganzen Monat, wollte man alle Orte aufsuchen, die - wie sie sagte - »Zierlewanger«, der Strafexpediteur Dierlewanger und seine Männer mit teuflischer Genauigkeit auslöschten. Nach Plan: erst plündern, dann das Vieh wegtreiben und dann die Einwohner vernichten. Dem Enkel lese ich die Meldung der Heeresleitung Minsk, Ostland, vor: Chatyn mit 90 Einwohnern vernichtet. Insgesamt wurden 9000 Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, 186 Dörfer wurden nicht mehr aufgebaut.

Als wir uns dem Ausgang nähern, sagt der Enkel: »Da stimmt das ja gar nicht, dass die Russen den schrecklichen Krieg hierher gebracht haben.« Ich frage: »Wie kommst du denn darauf, wer hat dir das gesagt?« Er weiß es nicht. Und bohrt mich nun mit Fragen: Warum hat Deutschland Krieg geführt? Warum haben Deutsche andere Menschen umgebracht? Warum machen die Menschen Krieg? Werden heute immer noch Menschen umgebracht? Und auch Kinder? Warum, warum ...

Der neue Roman des Schriftstellers Christian Schneider (sorbisch: Křesćan Krawc), Jg. 1938, heißt »Das Ende vom Paradies«.

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