Ali, mach' mir den Gemüsehändler!

Die beiden Dokumentarfilme »Kıymet« und »Bastarde« erzählen vom Leben türkischer Einwanderer in Kreuzberg

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 5 Min.

Einer der am meisten missbrauchten Begriffe ist wohl das Wort »Heimat«. Für den einen ist »Heimat« die Scholle, die durchtränkt ist vom Blut der Ahnen, für den anderen ist die Heimat das öde Kaff, in dem er aufwuchs, oder der Barhocker vor dem Spielautomaten in der Kneipe um die Ecke. Tatsächlich aber gilt: »Heimat ist dort, wo man sich aufhängt«, wie es der Schriftsteller Franz Dobler formulierte.

Die 28-jährige Berliner Filmemacherin Canan Turan jedenfalls, die nun gemeinsam mit ihrer 26-jährigen Kollegin Aslı Özarslan ein eigenwilliges Heimatfilm-Double-Feature vorgelegt hat (»Kıymet«/»Bastarde«), pflegt zumindest einen zeitgemäßen Begriff von »Heimat«, demzufolge antiquierte Kategorien wie Nation oder Abstammung schnuppe sind: »Deutschland fühlt sich für mich nicht an wie Heimat. Wenn es irgendein Ort dieser Welt ist, dann ist Kreuzberg mein Zuhause«, sagt sie gegen Ende ihres 25-minütigen Dokumentarfilms »Kıymet«.

Im Gespräch mit dem »nd« erläutert sie genauer, was sie meint: »Meine Nichtverbundenheit mit Deutschland rührt auch daher, dass ich mit Wörtern wie ›Ausländerin‹ aufgewachsen bin, dass Zugehörigkeit hierzulande immer noch auf Blut basiert. Das hat sich auch nach der Shoah nicht geändert in Deutschland. Doch am revolutionären 1.Mai fühle ich mich ganz besonders zugehörig zu Kreuzberg.«

Canan Turans Film ist ein liebevolles Porträt ihrer Großmutter Kıymet Özdemir, die über Jahrzehnte mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in Berlin gelebt und gearbeitet hat und die heute, im Alter, wieder in die dörfliche Gemeinschaft ihres türkischen Heimatortes zurückgekehrt ist: Der Film zeigt sie am Meer, bei der Gartenarbeit, im Gespräch mit anderen Seniorinnen des Dorfes.

»Die Geschichten der ersten Einwanderergeneration finden sehr wenig Platz in der medialen Repräsentation in Deutschland, auch kaum welchen in der offiziellen Geschichtsschreibung«, kritisiert Turan. Deshalb erzählt die Enkelin mit »Kıymet« auch die Migrationsgeschichte ihrer türkischen Großeltern, die in den sechziger Jahren aus einem kleinen Dorf an der türkisch-griechischen Grenze nach Berlin gingen, auch deshalb, weil sie als Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterpartei in der Türkei politisch verfolgt wurden. Doch im Kreuzberg der frühen siebziger Jahre ist der Empfang eher kühl.

»Sie schrieben ›Türken raus‹ an Türen, Hauswände, Fahrstühle«, erinnert sich etwa die alte Frau Özdemir, die wir im Treppenhaus des Kreuzberger Neubaus aus den siebziger Jahren stehen sehen, in dem sie mit ihrer Familie früher wohnte. »Damals war das jedenfalls so. Ich weiß nicht, ob es das in Berlin heute auch noch gibt.« Canan, die Enkelin und Dokumentarfilmerin, weiß es: »Ja, das gibt es noch.«

Rassismus löst sich nicht in Luft auf. Doch auch abgesehen von der alltäglichen Konfrontation damit hatten es die Großeltern nicht leicht: harte Arbeit, ernste Eheprobleme, weitgehende Rechtlosigkeit. »Meine Großmutter ist nicht nur als normale Gastarbeiterin hierhergekommen«, erzählt Turan. »Sie hat in Berlin auch weitergemacht mit ihrem Aktivismus. Arbeiterinnen und Arbeiter türkischer Herkunft hatten zum Beispiel in vor 40 Jahren nicht das Recht, in den Betriebsrat gewählt zu werden. Auch an den Schulen gab es Diskriminierung. Kinder sind erst einmal in rein türkische Klassen gegangen.«

Dennoch sagt Kıymet Özdemir in einer Szene des Films, als sie anscheinend zum ersten mal seit langer Zeit wieder durch den Kreuzberger Wasserturmkiez geht, sich wehmütig erinnernd: »Unser ganzes Leben haben wir hier in Kreuzberg verbracht. Ich wollte hier nicht weg, ich wollte nicht woanders in Deutschland wohnen.«

Die Erfahrung, als Migrant in Berlin zu leben oder als Nachkomme von Migranten dort aufgewachsen zu sein, thematisiert auch Aslı Özarslans ebenfalls nur knapp halbstündige Kurzdokumentation »Bastarde«, in der überwiegend Kreuzberger Künstler und Theatermacher zu Wort kommen, von denen sich viele bis heute in die Rolle von Außenseitern gedrängt fühlen. »Schauspieler türkischer Herkunft müssen bis heute den Gemüsehändler spielen und den türkischen Akzent nachmachen«, ärgert sich Tuncay Kulaoglu, Chefdramaturg des Theaters Ballhaus Naunynstraße. »Wir sind ein deutsches Theater. Wir sind ja nicht in Japan.«

Noch immer wird die Kulturproduktion der hierzulande geborenen und aufgewachsenen Nachkommen der Migranten an die Peripherie gedrängt und als eine Art exotische und possierliche Gastarbeiterkunst wahrgenommen. Selbst die Generation der Enkel jener türkischen Migranten, die in den Sechzigern in die Bundesrepublik kamen, sei heute mit den immergleichen Klischees und Stereotypen konfrontiert, beklagt sich Kulaoglu: »Ehrenmord, Zwangsheirat, Arbeitslosigkeit, Jugendgewalt, Blablabla.« Fremdzuschreibungen seien das, die an der Realität vorbeigingen.

Nicht etwa, dass es es den fanatischen Islamisten mit obligatorischem Gesichtspelz und Schaum vorm Mund nicht gäbe, doch die Vorstellung, dass er die Kinder und Kindeskinder der türkischen Einwanderer repräsentiert, ist mindestens so grotesk wie die, dass ausnahmslos alle sogenannten Bio-Deutschen der Gebirgsschützenkompanie Wolfratshausen angehören. Tatsächlich ist kaum eine Zwangsvorstellung der Deutschen so manifest wie die, dass der einmal als »Ausländer« Identifizierte auf immer und ewig der Ausländer bleibt, selbst dann, wenn dieser das ihm zugeschriebene »Heimatland« noch nie gesehen hat oder sich deutscher gebärdet als das Talkshow-Maskottchen Arnulf Baring.

»Der beste Ort zum Leben für Migranten und Migrantinnen in Deutschland ist Kreuzberg«, sagt Canan Turan, die gerade schon an einer langen Version ihres Films arbeitet. Dass ihre Dokumentation so kurz geraten ist, hat einen Grund. Turan hat ihren Master-Abschluss in London im Fach Dokumentarfilm gemacht. Von ihrer Hochschule war vorgegeben, dass der Abschlussfilm nur ein Kurzfilm sein dürfe. »In der Langversion wird dann auch der Fokus stärker auf Kreuzberg liegen und der Lebensweg von drei Generationen dargestellt.«

»Canım Kreuzberg« (»Liebes Kreuzberg«), bestehend aus den Filmen »Kıymet« und »Bastarde«, Deutschland/Türkei/Großbritannien 2012; Regie: Aslı Özarslan, Canan Turan. Gesamtlänge: 50 Minuten.

Die Filme werden im Kino Moviemento gezeigt. Kottbusser Damm 22, 10967 Berlin.

www.moviemento.de

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal