Spiele für Mörder und Zuschauer

Autorentheatertage am Deutschen Theater: »Call me God« vom Münchner Residenztheater

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist ein wenig wie bei Pirandello. Der löste mit »Sechs Personen suchen einen Autor« das auf, was man gemeinhin von einem Stück erwartete. Statt dessen setzte er das Publikum mitten auf der Baustelle eines hier und jetzt noch zu entstehenden Textes aus. Das ist auch schon eine Weile her, und wenn nun vier Autoren gemeinsam ein Stück schreiben, dann geht es dabei natürlich auch um unsere künstliche Medienwirklichkeit, die eines problemlos schafft: sich schier unendlich zu vervielfältigen.

Mit »Call me God« suchen vier Autoren aus allen Weltgegenden - Gian Maria Cervo, Marius von Mayenburg, Albert Ostermaier und Rafael Spregelburd - jenen Serienkiller, der 2002 als »Beltway Sniper« in den USA wahllos und wie aus dem Nichts mehr als zehn Menschen erschoss. Inzwischen wissen wir einerseits allzu viel über die beiden Täter, andererseits wiederum nichts, obwohl oder gerade weil sich der ganze amerikanische Nachrichtenapparat darauf stürzte. Die Nachrichtenshow wurde zum Teil des Falles, damit auch zum Teil des Verbrechens?

Mitautor Marius von Mayenburg inszeniert diesen Fall von allgemeiner Hysterie, der die Angreifbarkeit hochentwickelter Gesellschaftssysteme zeigt. Muss nur jemand ohne echtes Motiv, ohne Plan wahllos morden, damit er unauffindbar wird? Ist die Aufkündigung der rationalen Handlungsstruktur das, was ihn zum wahren Herrscher über uns macht? Was ist das für ein Gott, der aus dem Dunkel heraus Angst und Schrecken verbreitet?

Quentin Tarantino hatte mit seinem Film »Natural Born Killers« einst das Gesetz des Kampfes um Aufmerksamkeit aufgestellt: Morde nie, ohne die Kamera dabei zu haben! Denn die Kamera verwandelt nicht nur das schnöde Verbrechen in eine sensationelle Nachricht, sondern verleiht ihr die Aura der Bedeutsamkeit. Wer in den Nachrichten vorkommt, der ist wichtig. Über wen alle reden und schreiben, der ist der wahre Souverän über unsere schöne neue Welt, die uns so Angst macht.

Und so zappen wir uns dann eine Stunde und fünfundvierzig Minuten lang durch das Prinzip Nachrichten auf Amerikanisch. »Wir haben keine Angst, wir haben recht!« Mayenburg tat gut daran, dieses Protokoll des modernen Wahnsinns wie eine Serientätersoap zu inszenieren, nur in x-facher Geschwindigkeit. Vier Schauspieler (zwei Paare) spielen 55 Rollen! Man collagiert sich so voran von Partikel zu Partikel, von Nachricht zu Nachricht, Ratlosigkeit zu Ratlosigkeit. Aber auch dieser Zustand ist nicht ohne Helden: Experten genannt. »Call me God« kalauert knapp an der Trash-Grenze entlang, die allerdings eine fließende zu sein scheint. So steht die amerikanische Öffentlichkeit immer kurz vor dem Kollaps jenes eigenen Selbstbildes, wie es ihr aus dem Spiegel von Fernseher und Computer entgegentritt - und reagiert mit Durchhalteparolen.

Das ist ebenso intelligent wie witzig erzählt, immer hochtourig das Prinzip der Nachrichtenshow kolportierend: bloß keine Pause machen, bloß nicht zum Nachdenken kommen. Denn dann könnte es passieren, das sich der Nachrichtenkonsument fragt: Wird mir hier eine Welt vorgespielt, in täglich neuen, dabei doch wiedererkennbaren Schlagzeilen? Ein täglich frisches Produkt auf dem Markt der Skandale, Ängste und Sensationen, nur, was hat dies eigentlich mit mir zu tun? Diese Frage wäre das schwerste Attentat auf ein sich reproduzierendes System der Nachrichtenvermarktung.

Oder hat uns die künstliche Medienwelt bereits aufgesogen, sind wir am Ende nur mehr Mitspieler dieser Soap, die im Unterschied zu unserem Leben endlos scheint? Ist das die eigentliche Horror-Nachricht, die nie ausgesprochen wird?

Die Bühne: halb Wartesaal, halb Fernsehstudio. Die Kamera ist immer dabei, es flackern Videos im Hintergrund, wir lassen etwas zurück, wenn wir hier eintreten. Nur was? Erste Szene: das Ende eines der beiden Serienmörder mittels Giftspritze. Aufklärung und Transparenz sind dabei oberstes Prinzip. Alles geht überaus demokratisch und kontrolliert zu, man vergisst fast, dass hier ein Mensch getötet werden wird, der selbst getötet hat. Hier geht es also nur ums archaische Prinzip der Rache. Aber die Szenerie ist absolut clean, computergesteuert. Drei Spritzen, der Arzt ist dabei - nicht um Leben zu retten, sondern, um den Tod festzustellen - alles läuft automatisch, und der Knopf, den anfangs doch jemand drücken muss, ist gleich doppelt da. Einer von beiden dabei drückt ein »Placebo«, ohne Wirkung, der andere den Todesknopf. Aber niemand weiß, welcher von beiden es ist. Hier, so heißt es anerkennend, wird sogar an unser kleines Gewissen als kleine Vollzugsbeamte gedacht. Jeder der beiden kann sich beruhigen: Nicht ich, der andere war es!

Wie beliebig kann sie noch werden unsere Wirklichkeit? In Rückblenden werden die Morde gezeigt, knappe Angaben zu Person, alles im Zwei-Minuten-Takt der Nachrichten-Clips. Menschen fallen, als wäre dies ein schlechtes Fernsehspiel. Und immer hat jemand schnell ein Buch darüber geschrieben, das es in die Kamera zu halten gilt. Ein sich schnell vergrößernder Blutfleck auf dem Video, aber keine Stille nach dem Schuss, sondern der Wettlauf um die schnellsten Bilder vom Tatort. Aber wo befindet sich dieser eigentlich?

Mayenburg und seinen vier Schauspielern (Thomas Gräßle, Katrin Röver, Genija Rykova und Lukas Turtur) ist mit dieser Arbeit am Münchner Residenztheater etwas Besonderes gelungen: die Durchbrechung einer perfiden Logik durch ihre Überspitzung.

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