»Mindestlohn ist eine Frage des Respekts«

Gewerkschaften kritisieren ausufernden Niedriglohnsektor in Deutschland

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Mindestlohn vernichtet weder Jobs noch schadet er der Konjunktur. Das ist das Ergebnis einer Studie im Auftrag zweier Gewerkschaften.

Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde würde für den deutschen Binnenmarkt einen Kaufkraftzuwachs von 19,1 Milliarden Euro pro Jahr bedeuten. Das geht aus einer Studie hervor, die das Pestel Institut für Systemforschung (ISP) im Auftrag der Gewerkschaften Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und ver.di erarbeitet hat. Eine flächendeckende Mindestvergütung würde für die Niedriglöhner von heute ein durchschnittliches Kaufkraftplus von 2112 Euro pro Jahr bedeuten.

Laut der Studie, die am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde, erhielten im Jahr 2011 über neun Millionen abhängig Beschäftigte Stundenlöhne unter 8,50 Euro. Das entspricht einer Quote von mehr als 20 Prozent. In Ostdeutschland sind sogar 32,2 Prozent betroffen. Da im vorhandenen Datenmaterial nicht alle geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse erfasst werden konnten, sei sogar von einer deutlich höheren Quote auszugehen, so der ISP-Studienleiter Matthias Günther. Grundlage der Erhebung waren der Mikrozensus 2011 und das im Auftrag der Bundesregierung regelmäßig aktualisierte sozio-oekonomische Panel.

Für den NGG-Vorsitzenden Franz-Josef Möllenberg ist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns nicht nur ein Gebot der volkswirtschaftlichen Vernunft, sondern auch »eine Frage der Würde und des Respekts vor arbeitenden Menschen«. Er verwies auf die Fleischindustrie, wo reguläre Arbeitsplätze systematisch durch Auftragsvergaben an Subunternehmen und so genannte Werkverträge ersetzt würden, was für die in diesem Rahmen eingesetzten meist rumänischen Arbeiter Stundenlöhne von teils unter drei Euro bedeute. Das Problem habe längst eine europäische Dimension, da die schrankenlose Ausbeutung in deutschen Schlacht- und Zerlegebetrieben viele Firmen in Dänemark, Belgien und den Niederlanden in den Ruin getrieben habe. Trotz entsprechender Beschwerden auf EU-Ebene habe die Regierung nichts unternommen, um die Praktiken abzustellen, so Möllenberg. Deutschland sei neben Zypern das einzige EU-Land ohne gesetzlichen Mindestlohn.

Auch die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Andrea Kocsis verwies auf Branchen im Organisationsbereich ihrer Gewerkschaft, die von Niedriglöhnen betroffen sind. Als Beispiele nannte sie Einzelhandel, Logistik, Pflege, Callcenter sowie das Hotel- u. Gaststättengewerbe. Kocsis betonte, das die Einführung einer verbindlichen Mindestvergütung nur Sinn mache, wenn deren Umsetzung entsprechend kontrolliert und durch die Unterbindung des Missbrauchs von Werkverträgen und anderen Formen der Scheinselbstständigkeit flankiert würde.

Möllenberg äußerte sich auch zu der Frage, ob er seine ursprünglich grundsätzlich positive Haltung zur »Agenda 2010« und den Hartz-Gesetzen mittlerweile revidiert habe. Gemeinsam mit den Vorsitzenden der IG BCE und Transnet, Hubertus Schmoldt und Norbert Hansen, hatte sich Möllenberg im Juni 2003 zu »Reformnotwendigkeiten in der Wirtschafts-, Finanz-, Steuer-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik« im Sinne der Bundesregierung bekannt, was auf heftige Kritik bei anderen Gewerkschaften stieß. Der NGG-Vorsitzende betonte am Dienstag, dass er »die Idee der Agenda, Erwerbslose gezielt zu fördern und natürlich auch zu fordern« nach wie vor richtig finde. Das Fördern sei aber »weitgehend ausgeblieben«. Eine verbindliche Lohnuntergrenze habe er schon damals gefordert, um die Ausbreitung des Niedriglohnsektors zu verhindern. Und an dieser Haltung habe sich nichts geändert.

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