Sehen und Vergleichen
Wie ein im türkischen Mersin geborener Techniker Spezialist für deutschen Expressionismus wurde und eine bedeutende Galerie übernahm
Die Geschicke lenken. Wie demütig verbirgt sich hinter diesem flachen Wort das nackte, krasse Schicksal. Oft: mehrere Schicksale. Seit zwei Jahren lenkt Ergün Özdemir-Karsch die Geschicke einer der bedeutendsten deutschen Kunsthandlungen, der Galerie Nierendorf in Berlin. Ein in Mersin geborener Türke, Nachbarstadt des tourismusumschwärmten Antalya, als Chef des seit 1920 bestehenden Traditionsunternehmens? Spezialisiert auf »klassische Moderne«, eine heiß umworbenen Stilrichtung. Obendrein haben die Erben, Inge und Florian Karsch, den mit mancherlei Enttäuschung geschlagenen Immigranten adoptiert. Was hat ihm solche Ehre verschafft?
Eine ungewöhnliche Geschichte. Wir sitzen in den hellen Räumen der Galerie am Bahnhof Zoo. Umgeben von Gemälden des 1967 verstorbenen Malerdichters Bernhard Klein. Eines von den Nazis mit Berufsverbot und zu Lagerhaft Verurteilten. Wie viele Leben lebt ein Mensch? Und keines ist gänzlich ohne das andere denkbar.
Dass Ergün einmal Galerist werden würde, ist ihm nicht in Kinderjahren gesungen worden. Da hörte er die Schläge des Schmiedehammers in der väterlichen Werkstatt, das Fauchen des Feuers. Kinderarbeit im familiären »Atelier«, wie in der Türkei ein kleines Unternehmen genannt wird, war eine ganz normale Sache, erklärt er. »Ab sieben Jahren haben wir alles mitgemacht.« »Und mit zehn durftet ihr schon schweißen?« »Mussten wir«, korrigiert Ergün. »Gleich nach der Schule bin ich in die Werkstatt gegangen - nicht sehr förderlich für die Hausaufgaben, abends war ich erschöpft. Aber ich bin immer früh aufgestanden. Ich wollte unbedingt die Schule abschließen, mit guten Ergebnissen.«
Die Beharrlichkeit muss er vom Vater geerbt haben, einem talentierten, in der Stadt geschätzten Bastler, der sich in den Kopf gesetzt hatte, aus eigenen Stücken einen Motor herzustellen und ein Auto zu bauen. Das ist ihm auch gelungen. Ein Dreirädler ohne Abdeckung, mit dem die Familie ins Hochgebirge gefahren ist. Was Ergün beim Vater gelernt hat, kam ihm auf der Fachschule zugute. Die Ausbildung fiel ihm leicht. Er durfte sogar zwei Jahre lang an einer eigenen Drehmaschine arbeiten, stellte Motorenteile, Achsen, Zahnräder her, die verkauft wurden. Ein Privileg für Begabte, die damit der Schule zu beträchtlichen Einnahmen verhalfen.
Noch wies nichts in die künstlerische Richtung. Zwar hatte sich Ergün hin und wieder in der Rathausgalerie umgesehen - »naturnahe, romantische Bilder« -, aber damit überbrückte er bloß das Warten auf den Bus. Eine andere Sehnsucht begann sich, noch sehr diffus, bemerkbar zu machen. Es war die Zeit, als die ersten Touristen aus Deutschland am schönen Strand von Mersin campierten. Die Özdemir-Brüder fingen Fische für die Gäste, brachten Nüsse. Heitere Verflüchtigung des Fremden. »Da dachte ich, irgendwann werde ich mal nach Deutschland gehen.« Die Bundesrepublik war damals süchtig nach ausländischen Arbeitskräften. Ein Onkel und Nachbarn waren schon übergesiedelt, als Gastarbeiter. »Deswegen sind sie nie integriert worden. Weil sie immer als Gäste gesehen worden sind«, sagt Ergün.
1973, ein entscheidendes Jahr. Nach dem Fachabitur als Dreher mit Bestnoten und glanzvoller Aufnahmeprüfung für die Universität stand ihm jeder Campus offen. Sein Traum war, Maschinenbau zu studieren. Aber die Republik am Bosporus versank in einem Hexenkessel brutaler Radikalisierung. Eine militärhörige Regierung, Schlägereien zwischen Rechten und Linken, Hubschrauber über der Stadt. »An den Universitäten wurden jeden Tag einige Leute erschlagen«, erinnert sich Ergün. »Wer in einem Café eine linke Zeitung aufschlug, musste mit dem Tod rechnen. Ich sah keine Perspektive und wollte weg.«
Zumal er der Vision anhing, sich selbstständig zu machen, wie der Vater ein eigenes »Atelier« zu führen. Dazu brauchte er Geld. Sein Plan: Du gehst nach Deutschland malochen, sparst den Verdienst und studierst nebenbei. In der Mittelschule hatte er fleißig Deutsch gelernt, »bei einem guten Lehrer«. Das türkische Arbeitsamt vermittelte ihm eine Stelle als Drehmaschinenschlosser in Frankfurt am Main. Gesundheitstest - »fand ich etwas sonderbar« -, Eignungstest im deutschen Konsulat zu Istanbul problemlos bestanden. Alle Voraussetzungen waren gegeben.
Die unsäglichen Eskapaden der Bürokratie, einen langfristigen Ausreisepass auszustellen, wollen wir hier übergehen. Dann die Katastrophe: Als alles Unterschrift und Siegel hatte, wurde ihm der Pass in letzter Minute gestohlen. Ausreise und Arbeitsstelle futsch. Verzweifelt versuchte er einen zweiten Weg: als Student nach Deutschland zu gehen. Wieder das Hickhack um den Pass. Erlaubnis, die Türkei zu verlassen »bis heute 24 Uhr«. Mit Schwarzgeld-D-Mark ein Busticket erstanden. Nach drei Tagen Fahrt Bahnhof Zoo. »U-Bahn, S-Bahn unten, Mitte, oben. Ich war völlig verwirrt.«
Er kam bei Onkel und Tante in Tempelhof unter. Die Tante war gar nicht so erfreut über den Zuzug; die Familie wohnte mit zwei Kindern in zwei Zimmern. Der Neffe schlief auf einer Klappcouch in der Stube. Nun kam der Zufall ins Spiel. Vielleicht sind unsere Biografien viel mehr von Zufällen geprägt, als wir uns eingestehen. Der Onkel arbeitete bei Orenstein & Koppel und war zugleich Hausmeister im Nebengebäude, Manfred-von-Richthofen-Straße 14, jenem Haus, in dem Inge und Florian Karsch wohnten, die Inhaber der Galerie Nierendorf. Die Tante putzte und kochte für das Ehepaar. Beste Nachbarschaftsbeziehungen. Glücklicher Umstand für den nun 19-jährigen Ergün: Er durfte in der Galerie aushelfen, und eines Tages bot Frau Karsch, die den Flüchtling in ihr Herz geschlossen hatte, ihm an, im Gästezimmer des Galeriedepots zu schlafen.
Für den Techniker begann das zweite Leben. Mit Lichtblitzen der Selbstfindung? Nein, mit Nackenschlägen. Als er sich an der Technischen Universität für Maschinenbau einschreiben wollte, erfuhr er zweierlei: Er muss ein Praktikum vorweisen und: Ein türkisches Fachabitur wird in Deutschland nicht anerkannt. »Ich hätte ganz von vorn anfangen, noch einmal eine Oberschule besuchen müssen.« Um wenigstens eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, versuchte er es an der Kunstakademie: Drucktechnik. Auch dort wurde ein Praktikum verlangt. »Das war gar nicht möglich. Dafür hätte ich eine Arbeitserlaubnis gebraucht. Die bekam man erst nach dem Studium, und studieren durfte ich erst, wenn ich ein Praktikum habe. Ein Teufelskreis. Ich war völlig deprimiert. Ich war ein Nichts. Ich wollte wieder zurück in die Türkei.« Doch dort war seine Studienbewerbung längst verwirkt. Also neuerliche Aufnahmeprüfung in Bonn. Wieder hervorragende Ergebnisse; er hätte an der Eliteuniversität in Ankara beginnen können. Die Galeriearbeit sollte ihm die finanzielle Basis verschaffen.
»Vormittags zur Sprachschule am Nollendorfplatz. Ab Mittag Passepartouts schneiden, Bilder rahmen, manchmal zehn Stunden am Tag. Ich wirbelte wie verrückt. Mir stand der Schweiß in den Achseln.« Die Galerie florierte. Florian Karsch erhöhte in kurzen Abständen den Lohn. »Für mich ein wahnsinniges Geld. Ich sollte meine Stunden aufschreiben, es waren so viele, ich dachte, das kann ich doch nicht verlangen, habe mich geschämt und Stunden wieder ausradiert.« Solche Bescheidenheit, Fleiß und Auffassungsgabe brachten ihm die Sympathie des Ehepaares Karsch ein. Nach zwei Jahren begann er, das Layout für die Kataloge zu erstellen, damals noch Klischeedruck; Kunstkoryphäe Karsch, ein überaus charismatischer Mann, verrechnete sich des öfteren. Bei Ergün, in technischem Zeichnen ohnehin Experte, stimmte alles auf den Millimeter. Er gehörte fast schon zur Familie, schmückte alljährlich den riesigen Weihnachtsbaum, sorgte sich bei Krankheit. Die Karschs waren ihrem Zögling in jeder Weise zugetan. Sie hatten keine Kinder. Als ihm der Aufenthalt verwehrt werden sollte, wollten sie Ergün adoptieren, »damit er nicht wieder zurückgehen muss«, sagt Florian Karsch. Doch der türkische Sohn war zu stolz für solch einen Schritt. »Wie sollte ich das meinen Eltern sagen, den Brüdern, der Name wird geändert - eine Schande.«
Trotz seiner zögerlichen Haltung bedachten die Karschs Ergün Özdemir in immer wieder zu seinen Gunsten geänderten Testamenten mit Erbteilen. Sie vertrauten ihm an, die Jahresbilanz zu erstellen. Er fuhr mit dem Meister zu Auktionen, um Bilder auszuwählen für den Ankauf. »Von Florian Karsch habe ich unglaublich viel gelernt. Er kommentierte ja die Exponate, manchmal mit drastischen Worten.«
So kam er immer tiefer ins Geschäft. Aber wie hat der passionierte Techniker ein Gefühl für die Bildende Kunst entwickelt? »Durch sehen, sehen ... Auch sehen will gelernt sein. Als ich das erste Mal in die Galerie kam, hing im Flur eine Zeichnung von Picasso. Darunter stand: 9000 DM. Wer soll denn so was Verrücktes kaufen, dachte ich. Aber der Geschmack ändert sich. Man wird empfindsam durch das Vergleichen. Heute würde ich einen Picasso sofort kaufen, wenn ich genug Geld hätte. Ich bin ja auch in Berliner Museen gegangen. Und irgendwann ist man infiziert.«
Nach reichlichen Überlegungen entschied sich Ergün Özdemir, in Berlin zu bleiben. Inzwischen hatte er geheiratet, eine eigene Wohnung, zwei Kinder. Und im Jahre 1994 wurde die Adoption besiegelt. »Ich hatte, als ich noch zweifelte, unter einem falschen Stolz gelitten. Die Karschens waren doch genau so gut wie meine Eltern.« Für die Kinder war es auch von Vorteil. Sie arbeiten jetzt in der Galerie mit. Der Sohn Serkan ist ein exzellenter Fotograf, und das Layout für die Kataloge macht jetzt Tochter Seda am Computer.
»Irgendwann begannen mir die Bilder etwas zu erzählen. Wie die von Bernhard Klein, der ganz bewusst eine dichterisch gesehene Welt malen wollte. Schauen Sie: ›Kalter Morgen am Hafen‹ - ist das nicht wunderbar? Wie die kleinen Dampfer hinter dem dunklen Wald der Festmacherpfähle fast verschwinden?«
Vollends belebten sich die Drucke, Collagen, Gemälde, wenn er die Schöpfer dieser Augenweiden - Augenweiten! - persönlich kennenlernte. Hannah Höch, die zierliche Dada-Fantastin. Sie ist in der Galerie Nierendorf erst eigentlich entdeckt worden, und Florian Karsch hat ihren Bildern den Marktwert verschafft, mit dem sie heute gehandelt werden. Wie oft hat Ergün sie nach Hause gefahren, in ihr Gartenhäuschen in Heiligensee. Oder Conrad Felixmüller, dem er in seiner Zehlendorfer Wohnung Blätter zum Signieren vorlegte. Doch seine Favoriten sind die Expressionisten der Künstlervereinigung »Brücke«. Er hat sogar, wie der Seniorchef, begonnen, Otto Mueller zu sammeln.
Gibt es nicht Vorbehalte unter Kunden und Kollegen, dass nun ein Ergün Özdemir-Karsch das Erbe angetreten hat? Ja, das kommt vor, sagt er. »Es gibt immer skeptische Leute, die sich vielleicht fragen, ob ich kompetent genug bin. Aber viele freuen sich auch: Schön, dass du jetzt die Galerie hast. Sie kennen mich ja schon seit 40 Jahren.« Und der nun 87 Jahre alte Inspirator? »Ergün macht doch seit Jahren hier das meiste. Die Galerie ist in guten Händen.«
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