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»Ennahda hat unser Land gespalten«

Tunesiens Regierung plädiert für Dialog, um Massenprotesten den Wind aus den Segeln zu nehmen

  • Astrid Schäfers, Tunis
  • Lesedauer: 3 Min.
In Tunesien sind für Dezember Neuwahlen geplant. Doch ob die Regierungskoalition aus islamischer Ennahda und zwei kleineren säkularen Parteien bis dahin im Amt bleibt, ist angesichts wiederkehrender Massendemonstrationen fraglich.

Tunesiens Regierung ist am Zug. Zur Beilegung der politischen Krise hat Regierungschef Ali Larayedh von der islamischen Ennahda-Partei eine Zusammenarbeit aller beteiligten Konfliktparteien gefordert. »Dialog ist der beste Weg, um die Schwierigkeiten zu überwinden und die derzeitigen Probleme zu lösen«, sagte Larayedh am Donnerstag in einer Botschaft zum Ende des muslimischen Fastenmonats Ramadan. Seine Regierung werde »nichts unversucht lassen, um den Dialogprozess zu befördern«.

Die Opposition, die von Linksextremen bis zu Mitte-Rechts-Parteien reicht und von der einflussreichen Gewerkschaft UGTT unterstützt wird, bewertete die Maßnahme als positiv, aber unzureichend. Ennahda-Chef Rashid Ghannouchi meldete am Mittwoch Bedenken gegen den Schritt an, äußerte aber zugleich die Hoffnung, dass eine Regierung der nationalen Einheit gebildet werden könne. Zuvor hatte die Partei eine Kabinettsumbildung strikt abgelehnt.

Die Regierung und die Verfassunggebende Versammlung (ANC) werden durch fast tägliche Demonstrationen in Tunis unter Druck gesetzt. Ausgangspunkt war die Ermordung des Oppositionspolitikers Mohamed Brahmi am 25. Juli. Viele Bürger machen die Regierung für den Mord verantwortlich. Beim bisherigen Höhepunkt versammelten sich am Dienstag über 500 000 Menschen aus zahlreichen Regionen des Landes in Tunis, um sich an der Großdemonstration vor dem Sitz der ANC in dem Viertel Bardo zu beteiligen. »Meine Freunde sind extra aus Gabès gekommen, damit die Regierung endlich zurücktritt und die ANC aufgelöst wird«, erklärte Rafik, ein Ingenieurstudent, dem »nd«. Rafik gehört dem aus Oppositionsparteien und Nichtregierungsorganisationen bestehenden Bündnis Volksfront an, dessen charismatischer Führer Chokri Belaid im Februar dieses Jahres ermordet wurde.

»Hau ab, Regierung! Die ANC muss weg!«, riefen die Menschen in Sprechchören und schwenkten die roten Fahnen Tunesiens mit dem Halbmond. »Diese Regierung ist diktatorisch. Sie will uns vorschreiben, wie wir zu leben haben, sie gängelt die Moscheen, die Presse und die Justiz«, erklärte Hamid Mzoughi, der Vorsitzende der aus der Jugendbewegung entstandenen Initiative Tamarod (Rebelliere!) dem »nd«. Auch die Verfassunggebende Versammlung verfolge nicht die Ziele der Revolution, Freiheit und eine Vielfalt von Ideen und Lebensweisen zu ermöglichen. Deshalb hat Tamarod bereits 1,7 Millionen Unterschriften für die Auflösung der ANC gesammelt. Der Anteil an Tunesiern, die sich durchschnittlich an Wahlen beteiligen, beläuft sich auf etwa 3 Millionen.

Bereits bevor Premier Ali Larayedh am Donnerstag reagierte, setzte der säkular gesinnte Präsident der Verfassunggebenden Versammlung, Mustapha Ben Jaafar, überraschend die Arbeit des Gremiums bis auf Weiteres aus. Auch er forderte einen Dialog der Konfliktparteien. Nach dem Mord an Brahmi sind bereits 60 Mitglieder aus der zunächst 217 Mitglieder starken ANC ausgetreten. Das Organ war somit ohnehin kaum arbeitsfähig.

Im Gegensatz zu Tamarod fordert der Gewerkschaftsverband UGTT nicht die Auflösung der ANC. »Ein Minimum an Legitimität sollte bewahrt werden. Wir fordern, dass alle Organisationen, die Mitglied der ANC sind, Juristen in ein Expertenkomitee entsenden, das dann eine Verfassung ausarbeitet«, erklärte der Generalsekretär für internationale Beziehungen der UGTT, Kacem Afaya, am Donnerstag dem »nd«. Afaya verlangte zudem die sofortige Auflösung der »Pseudoligen für die Verteidigung der Revolution«. »Diese Ligen haben mit den Zielen der Revolution nichts zu tun, es handelt sich um Milizen der Ennahda, die im Dezember vergangenen Jahres unsere Zentrale angegriffen haben«, so der Gewerkschafter. Ennahda habe Tunesien in zwei Lager gespalten, meint Nisal Fatnassi, Koordinator eines Vereins für Obdachlose und arme Familien. Die Partei lasse sozialen Vereinen Gelder zukommen, um deren Unterstützung zu gewinnen. Mehrere seiner ehemaligen Studienfreunde seien der Partei beigetreten, aus »Mangel an Perspektiven«.

Der Druck der Straße wächst. Konzerte und Theaterworkshops für Kinder animieren auch Menschen, die nichts mit Politik zu tun haben möchten, täglich zu den Demonstrationen vor der ANC zu kommen. Aufgrund der geringen Unterstützung der »Regierung« durch Militär und Polizei ist ein gewaltsames Vorgehen gegen die Demonstranten in Bardo nicht zu erwarten. Eine schnelle Lösung der Krise indes auch nicht.

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