Durch die Kälte der Welt

Wilson in Bochum

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 2 Min.

Vor einem Jahr setzte Dietmar Schwarz als neuer Intendant der Deutschen Oper Berlin einen Akzent, indem er mit Helmut Lachenmanns Ausnahmewerk »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern« in seine Amtszeit eintrat. Diese musikalische Grenzgängerei bis an den Rand des Verstehbaren, diese Verwischung von Texten (von Andersen, Ensslin und da Vinci) bis hin ins nur noch Lautmalerische, diese gewaltige logistische Herausforderung für ein klassisches Orchester, das den Instrumenten auch auf völlig ungewöhnliche Weise Töne und Klänge entlocken muss, zersplittert postiert wird und dann doch wieder ein Ganzes sein soll, war denn auch bislang der Glanzpunkt von Schwarz’ Intendanz.

Ein Publikumserfolg war dieses Ausnahmewerk jedes Mal. Ob bei der Uraufführung 1997 in Hamburg, in Paris und Stuttgart oder in Wien. So radikal das Werk auch mit den Hörgewohnheiten bricht - die Publikumsneugier belohnt die Macher allemal. Jetzt bei der RuhrTriennale ist das Risiko allerdings gering. Wo Grenzüberschreitungen Programm sind, da gehört so ein singuläres Werk quasi zum Kernrepertoire.

Dafür erweitert selbst Robert Wilson schon mal die deutsche Filiale seiner Licht-, Bewegungs- und Figuren-Großwerkstatt von Berlin in die Jahrhunderthalle nach Bochum. Angela Winkler als das »Mädchen« nimmt er dorthin gleich mit. Bei ihr geht’s nicht ums Lebensalter (oder dessen spielerisches Wegzaubern), sondern um ihre unnachahmliche schauspielerische Fähigkeit, wie aus dem Jenseits zu agieren, zu schauen, Texte zu hauchen.

Agieren muss sie gemessenen Schrittes auf der viereckigen, von Tribünen umbauten Spielfläche, nur unterbrochen von plötzlichen Reaktionen auf abrupte Lichtwechsel. Die dadaistisch verfremdeten Textbruchstücke haucht sie nur einmal länger ins Geviert. Sonst schreitet und schaut sie wie aus dem Jenseits auf die Kälte dieser Welt. Oder auf einen brennenden Stuhl über ihrem Kopf. Oder auf die einschwebenden Wilson-Meteore. Oder eben auf den Mann mit dem weiß geschminkten Gesicht, der irgendwann im dicken Pelzmantel auf sie zu balanciert - mit einem Eisblock seiner Hand, die dort baumelt, als wäre es eine Handtasche. Am Ende schläfert dieser Mann, der kein anderer als Robert Wilson selbst ist, das Mädchen ein. Wie ein gütiger Vater, der nichts machen kann gegen den Frost.

Oder eben wie der Herr dieses Theaters. Zu dem gehören auch die in die Unsichtbarkeit der letzten Reihe über den Zuschauern verbannten Musiker des hr-Sinfonieorchesters, die von dort aus unter der Leitung von Emilio Pomàrico an der Klangwolke werkeln, mit der sie den Raum von oben her füllen. Und so einem Gesamtkunstwerk der besonderen Art das Musikalische hinzufügen.

Weitere Vorstellungen: 18. bis 22. September

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