Ein Jude sucht Heimat

Geboren als Salomon Schmeidler: Walter Kaufmann blickt zurück auf neunzig Jahre wildes Leben

  • Erasmus Schöfer
  • Lesedauer: 5 Min.

Walter Kaufmann ist noch immer eine stattliche Erscheinung, der man eher den Abenteurer als den Schriftsteller zutraut. Er stammt aus dem Ruhrgebiet, hat als unfreiwilliger Emigrant viele Jahre in Australien verbracht, und lebt seit Mitte der fünfziger Jahre vornehmlich in Ostberlin. Wie das Fotoalbum eines weltläufigen Fahrensmanns erscheint mir sein überwiegend autobiografischer Erzählungsband. Es handelt sich um packende und zum Teil ergreifende Lebenslichter des am 19. Januar neunzig Jahre lebendigen Autors.

Die erste der drei Abteilungen von Erzählungen umgibt sich am stärksten mit dem Flair des Abenteuerlichen, da sie den Erlebnissen des Jugendlichen gilt, der unfreiwillig von England nach Australien kam. Der noch rechtzeitig nach England emigrierte Halbwüchsige wurde bei Kriegsanfang mit zweitausend anderen vor den Faschisten Geflüchteten wegen möglicher Spionage für Deutschland auf den entferntesten Teil des Dominiums verbannt.

Die zeitliche Entfernung der lapidar erzählten Erlebnisse lässt diese wohl weniger brutal erscheinen als sie gewesen sein müssen. Als der junge Mann nach siebzehn Jahren im Ausland über Moskau und Warschau nach Ostberlin zurückgekehrt war, riet ihm dort ein alter Schriftsteller und Spanienkämpfer, besser in die Stadt seiner Jugend, Duisburg, weiterzufahren. Das wurde jedoch eine Heimkehr in eine ihn abweisende Fremde - wie auch dieser Abschnitt überschrieben ist. Das wohlvertraute Elternhaus war unbeschädigt geblieben, aber er wurde an der Tür abgefertigt wie ein Bettler. Die wenigen noch auffindbaren Bekannten leugneten ihm ins Gesicht, gewusst zu haben, in welches Ende seine Eltern »abgereist« waren, nämlich nach Auschwitz. Unerbittlich und ohne Trost ist dieses Heimkehrerschicksal.

Die alte Sekretärin seines Vaters aber hatte ihm eine ihr von seinen Eltern anvertraute Mappe ausgehändigt, aus der er nun erstmals erfuhr, dass er der Adoptivsohn dieser geliebten Eltern war. Seine Geburtsurkunde teilte ihm unverblümt mit, dass er der uneheliche Sohn Salomon einer polnischen Jüdin namens Rachela Schmeidler sei, wohnhaft in der Berliner Mulackstraße, die ihn im Alter von siebzehn Jahren zur Welt gebracht hatte. Diese Lebenswahrheit hatten ihm seine Adoptiveltern fürsorglich verschwiegen, auch noch als sie ihn zu seiner Rettung nach England schickten. Eine bestürzende Aufklärung.

Er verließ die so unheimlich gewordene Jugendheimat, fuhr nach Ostberlin zurück, suchte dort nach alten Bewohnern dieser weitgehend zerstörten Straße, fand tatsächlich eine alte Frau, die den kleinen Salomon betreut hatte, während die polnische Mutter im Kaufhaus Tietz am Alex arbeitete. Sie sei eine schöne junge Frau gewesen, versicherte sie ihm, dunkle Haare, dunkle Augen, und irgendwann unbekannt verzogen, nachdem ein Fremder den Jungen mitgenommen hatte. Mit welchem Recht, mit welcher Absicht, wusste sie nicht. Noch eine Ungewissheit. Und die Mutter - wohin denn die? Erneut die furchtbare Auskunft: »Guter Mann, von die Transporte weiß ich nur, wat so geredet wurde. Hab mich da rausgehalten.«

Auch die leibliche Mutter im Rauch der Krematorien verschwunden. Walter Kaufmann berichtet von diesen Erlebnissen in einer nüchtern-distanzierten Sprache, aber die mitfühlende Vorstellung empfindet die existenzielle Verzweiflung, die den Mann bei seiner Suche antrieb. Über Kaufmanns erste Berliner Jahre erfahren die Leserinnen und Leser nicht viel mehr, als dass er ein vielgelesener Reporter und Schriftsteller wurde. Aber als er über ungerechte bürokratische Zwangsmaßnahmen gegen eine Arbeiterfrau nicht schreiben durfte und sein Verlag eine kritische Passage in seinem Buch nicht drucken wollte, zog er seine Konsequenz.

Raus aus der Bevormundung! Er heuert mit seinem australischen Seefahrerpatent auf einem Handelsschiff der DDR an. Sein erneutes Exil liegt auf den Meeren, zwischen Kuba, Rio und Rostock. Über diese zweite Fahrenszeit schreibt er drastische, saftige Geschichten, erzählt in der ehrenwerten Tradition von Jack London und Hemingway.

Doch erst im dritten Teil dieses Bandes dringt der Autor vor, nein: zurück zu den Erinnerungen, die zeitlich am weitesten entfernt und doch am grellsten und schmerzlichsten gespeichert sind und so auch auf mich gewirkt haben. Es sind die Jahre seiner Jugend in Duisburg, im Haus des gut situierten jüdischen Rechtsanwalts, als der von den Nazis geschürte Judenhass zu ständig sich verschlimmernden Erlebnissen des Schülers mit den nichtjüdischen Deutschen führt. Lange ist er ein ganz naiver normaler Junge, der nicht versteht, was die Landsleute so verdreht. Als ihn sein bester Freund fragt, weshalb die Deutschen die Juden hassen, weiß er keine Auskunft. Da sagt der, weil er immer wieder angepöbelt wird wegen seiner Freundschaft mit ihm, den Satz, der einen auch vom Umschlag des Buches erschreckend anspringt: »Schade, dass du Jude bist.« Und Walter Kaufmann, nachdem er die Horrorszene beschrieben hat, wie am 9. November 1938 die SA-Bande des elterliche Haus verwüstet und den Vater verschleppt hat, bekennt die erstaunlichen Sätze: »Ich schreibe dies nieder wie in Trance, ohne Erregung jetzt, beschreibe die Zerstörung, die über uns kam, plötzlich, auf Befehl, und mit einer solchen Wucht, dass es die ganze Zeit unwirklich schien - nicht fassbar. Und dennoch habe ich Hoffnung. Das ist eine Ordnung, die wir zerstören - in unseren Herzen, unserem Geist, zerstören sie durch unsere Art zu leben, zu denken und zu handeln. Vielleicht wurde meine Hoffnung an jenem Novembertag im Jahr 38 geboren. Ich habe sie bewahrt.«

Walter Kaufmann: »Schade, dass du Jude bist.« Prospero-Verlag. 353 S., geb., 17,95 €.

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