Der subjektive Blick

Theater unterm Dach: »Patentöchter« - ein Dialog zum RAF-Attentat

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Theaterstück »Patentöchter« von Mirko Böttcher im Theater unterm Dach beginnt mit einer fulminanten Szene: Zwei Frauen erinnern sich an einen Tag, der ein familiärer Einschnitt war und zugleich ein historisches Datum wurde. Die eine (dargestellt von Claudia Wiedemer) ist die damals 13-jährige Julia Albrecht. Ihre ältere Schwester Susanne führte ein RAF-Kommando in das Haus des Bankiers Jürgen Ponto - die Familie Albrecht war mit Ponto befreundet. Julia war mit ihren Eltern beim Essen, eine Belohnung für das gute Zeugnis, das sie vor Kurzem erhalten hatte. Doch ein Anruf, bei dem - so Julias Erinnerung - gleich »alles klar war«, beendete den Tag.

Die andere (dargestellt von Silke Buchholz) ist die Ponto-Tochter Corinna. Sie berichtet ebenfalls von einem einschneidenden Moment: Sie lebte in London, war gerade dabei, sich ein Essen zuzubereiten und rief dem Mann an der Tür, dem sie noch den Rücken zukehrte, ein »Verschwinde doch!« zu. Anders als sie vermutet, handelt es sich bei diesem Mann aber nicht um die argentinische Sommerliebe Raul, der sie mit diesen Worten den Laufpass geben will, sondern um einen Abgesandten der Bank. Der macht ein derart betroffenes Gesicht, dass auch ihr sofort klar wird, dass etwas Besonderes geschehen sein muss.

Dies ist ein starker Auftakt. Wiedemer und Buchholz bedienen sich des von Corinna Ponto und Julia Albrecht gemeinsam geschriebenen Buches »Patentöchter«. Beide waren - wie auch Julias Schwester Susanne - Patentöchter der jeweils anderen Familie. Der 30. Juli 1977, an dem die RAF-Mitglieder Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt im Beisein Susanne Albrechts Jürgen Ponto erschossen, fuhr wie ein Blitz in das Leben der beiden Familien. Fortan war nicht nur das Band zwischen ihnen zerrissen. Corinna Ponto und Julia Albrecht beschrieben auch, wie ihnen jeweils das eigene Leben genommen wurde. War die eine nur noch »die Schwester von ...«, so musste sich die andere, die später Sängerin wurde, des Öfteren anhören: »und die singt auch noch ...?«

Bevor Claudia Wiedemer und Silke Buchholz sich wieder dieses Schicksals ihrer Hauptheldinnen annehmen - und es berührend interpretieren -, wurde ihnen jedoch von Regisseur Böttcher der Auftrag erteilt, den Tathergang auch aus der Perspektive Susannes und der von Corinnas Mutter Ines zu rekonstruieren. Der Figurentausch jedoch misslingt; für ein paar quälende Minuten sinkt die Inszenierung auf das Niveau von Wandzeitungs-Dokumentar-Theater herab.

Allerdings nimmt sie danach wieder Fahrt auf. Wiedemer beschreibt, wie Julias Umgebung mit Fahndungsplakaten der Schwester zugepflastert ist. Erst als sie sich entschließt, die Schwester bei jedem Plakat mit »Hallo Schwesterchen« zu begrüßen, kann sie sich aus der Starre befreien. Fast so traumatisch wie die Auswirkungen der Tat selbst gestaltet sich für Julia die Wiederbegegnung mit der Schwester nach deren Verhaftung 1990. Susanne Albrecht hatte als RAF-Aussteigerin in der DDR nicht nur einen anderen Namen angenommen. Sie erzählte Julia auch, dass es in ihrer Legende »keinen Platz für eine Schwester« gegeben und sie sie überhaupt völlig vergessen habe, da diese bei ihrem Abtauchen im RAF-Untergrund noch sehr klein gewesen sei. »Hallo Schwesterchen« wird hier zu einer verzweifelten Anklage.

Silke Buchholz hat als Corinna Ponto ihren starken Auftritt, als sie sich über diverse Aufklärungspannen des BKA beklagt sowie über die mutwillige Vernichtung von vielen Metern Akten zu den Mordfällen Ponto, Buback und Schleyer, über den geringen Aufklärungswillen hinsichtlich der Aktivitäten von Agentenführern der Staatssicherheit der DDR im Terrorkrieg der RAF.

Ponto zufolge war einer der maßgeblichen Offiziere der HVA ausgerechnet in den zwei heißesten Jahren des »Deutschen Herbsts« im »Einsatzgebiet«, also der Bundesrepublik, tätig. Ans familiäre Drama schließt sich - nicht nur ihrer Lesart nach - ein von verschiedensten Interessen geleiteter Verschweige- und Vertuschungskomplex an.

Die Protagonistinnen beschränken sich in ihrer Sicht auf die RAF auf einzig deren Brutalität und lassen die historische Einbettung des - freilich anmaßenden - Stadtguerrilla-Konzepts in die politischen Kämpfe der 70er und 80er Jahre außer Acht. Das ist in weiten Teilen der Inszenierung seine Stärke. Zeigt sie doch den radikal subjektiven Blick, den die beiden Frauen auf die historischen Ereignisse haben und in dem sowohl die traumatischen Auswirkungen auf die Angehörigen als auch das zwischen Sensationsgier und klischeehafter Vereinfachung changierende Verhalten der Gesellschaft sichtbar werden.

»Patentöchter« ist eine Inszenierung mit beunruhigenden Botschaften. Wenn Einzelne sich zu Richtern aufschwingen und Geheimdienste ein seltsames Spiel mit den Bedrohern ihrer Ordnung treiben, mit jenen also, die nämlich Garanten ihres eigenen Arbeitsplatzes sind und perspektivisch zu Bedrohern der Ordnung ihrer Gegner werden können, bei solchem Spiel bleiben nicht nur die Angehörigen der Täter, sondern gleich die gesamte Zivilgesellschaft auf der Strecke. Schon seltsam, dass die NSA ihren Edward Snowden hat, im Falle des BKA aber Whistleblower fehlen.

Nächste Vorstellungen am 14. und 15. Dezember, jeweils 20 Uhr, im Theater unterm Dach, Danziger Straße 101

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